Für den Verfassungsgerichtshof bringt die Coronazeit viel Arbeit: 130 Beschwerden und Anträge zu diesem Thema gingen allein bis Ende Dezember 2020 ein, sagt VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter im Exklusiv-Studiogespräch mit der Kleinen Zeitung. 29 davon waren für die Kläger erfolgreich. Derzeit kämen "an fast jedem Werktag ein bis drei Beschwerden dazu".
Hauptthema sind die Grundrechtseingriffe durch die Lockdowns. Für den Maßstab, an dem man das prüfe, gebe es zwei Phasen, sagt der Präsident: "Im Vorjahr war es die Plötzlichkeit der Eingriffe, heuer ist es vor allem die lange Dauer." Rechte des Einzelnen dürften jedenfalls nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden: "Es darf nicht mehr an Freiheit genommen werden, als unbedingt notwendig ist."
Volle Rechte für Geimpfte
Die Forderung, dass Geimpfte ihre Rechte sofort wieder voll zurückbekommen, wird von Grabenwarter indirekt bestärkt: Man habe dem Gesundheitsminister "mehrmals ins Stammbuch geschrieben", dass Ausgangsbeschränkungen stets nur bei "hinreichender Evidenz" verfügt werden dürften. Diese Evidenz müsse der Staat auch dokumentieren, jede beschränkende Maßnahme müsse nachvollziehbar sein.
Weitere Aussagen des Präsidenten im Studio-Exklusivgespräch mit der Kleinen Zeitung:
Zum Sterbehilfe-Erkenntnis vom Dezember, das künftig Beihilfe zum Selbstmord erlaubt: "Entscheidungen wie diese bereiten einem zumindest unruhige Stunden, die nicht von Schlaf gekrönt sind. Wir hätten diese Entscheidung nicht treffen können, ohne die teils schwerkranken und hoch belasteten Antragsteller in einer ausführlichen mündlichen Verhandlung anzuhören. Das ist uns im Vorjahr auf dem Höhepunkt einer der Coronawellen nicht leicht gefallen."
"Kommunikation des Kanzlers ist keine Privatsache"
Zur Herausgabe von Politiker-Chatprotokollen: "Der Verfassungsgerichtshof ist Wahrer des Datenschutzes und hat ihn in den letzten 20 Jahren zu einem zentralen Grundrecht herauspräpariert. Es gibt aber, von der Verfassung vorgezeichnet, einen gewissen Vorrang des Untersuchungsrechts des Parlaments. Die Kommunikation eines Bundeskanzlers ist eben keine reine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit, wo es ein gesteigertes Interesse geben kann und dadurch der Grundrechtsschutz möglicherweise geringer ist. Diese Unterschiede hat es immer gegeben, sie spitzen sich jetzt nur zu, weil es mehr Daten gibt. Wer in die Öffentlichkeit tritt, der muss damit rechnen, dass an seiner Person mehr Interesse besteht und auch mehr an Privatsphäre öffentlich werden darf."
Zur Gefahr, parteipolitisch vereinnahmt zu werden: "Das verhindert man nur durch Zurückhaltung und durch das Bewusstsein, dass vom VfGH zwar politische Fragen zu entscheiden sind, dass sie aber niemals mit den Mitteln der Politik gelöst werden, sondern am Maßstab des Rechts. Es hilft zusätzlich, dass man in einem Kollegium entscheidet, wo man einander gegenseitig Bremse und Kontrolle ist."
"Keine große Bereitschaft" bei heißen Eisen
Zu den Klimaschutz-Verfassungsbeschwerden: "Wir haben immer wieder die Situation, dass in Fragen, die an und für sich die Politik entscheiden sollte, der VfGH bemüht wird. Eine Ursache kann man darin sehen, dass in Parlament und Regierung offenbar keine große Bereitschaft besteht, ein heißes Eisen anzugreifen. Man wird sehen, ob der Gesetzgeber und die Regierung der Motor einer Entwicklung ist oder ob es dann tatsächlich wieder eine Frage wird, die von Gerichten zu entscheiden ist. Fragen ans Gericht kommen umso eher, je weniger die Politik das entscheidet."