Im ersten Lockdown vor einem Jahr wurde stark an das „Wir“ appelliert, wir gemeinsam zum Schutz der Alten. Diese Erzählung wirkt kaum mehr. Wie ist uns das „Wir“ abhandengekommen?
Judith Kohlenberger: Ich teile diesen Befund. Im Herbst sind wir in die Mühen der Ebene der Pandemiebekämpfung gekommen. Das solidarische „Wir“ hat sich in ein „Wir“ und „die anderen“ differenziert. Auch, weil soziales Abstandhalten keinen Austausch mit Menschen außerhalb der eigenen „Blase“ ermöglicht hat. Und ein größeres „Wir“ entsteht eben auch durch Kontakt mit anderen.
Kontakt mit anderen haben derzeit nur jene, die an Corona-Demos teilnehmen. Entsteht hier eine neue Art „Wir“-Gefühl?
Die Teilnehmer sind aus meiner Sicht von der Sehnsucht nach einem Wir-Gefühl getrieben – wir, das Volk, gegen „die da oben“. Dabei handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe, die nicht einmal durch ein klares, gemeinsames Interesse verbunden ist. Es geht nicht um das demokratische Ringen um Konsenses, sondern ums Dagegensein. Und wer nicht dagegen ist, ist nicht Teil des „Wirs“. Produktiv kann eine solche Debatte nur dann sein, wenn man sich beim Ausstreiten der Positionen immer auf gemeinsame Errungenschaften wie Grund- und Freiheitsrechte verständigt. Und das geschieht hier nicht.
Dabei berufen sich die Demo-Teilnehmer doch gerade darauf.
Ja, aber hier fehlt der wichtige demokratische Grundsatz, dass die eigene Freiheit dort endet, wo sie andere an Leib und Leben gefährdet. Was bei fehlenden Abständen und Masken der Fall ist. Das missachtet das Fundament eines gemeinsamen „Wirs“. Hier kann der Konflikt nicht mehr produktiv sein.
Gestern kam es in Wien erneut zu Zusammenstößen bei einer Demo. Müssen wir schlicht lernen, mit diesem Konflikt zu leben?
Es braucht deutliche rote Linien, die Politik und Zivilgesellschaft ziehen müssen. Natürlich marschieren dort auch selbst ernannte besorgte Bürger ohne rechtsextremes Gedankengut. Aber auch die müssen sich bewusst sein, mit wem sie demonstrieren. Und sich fragen, ob es nicht andere Wege gibt, seinen Unmut zu äußern. Nicht zuletzt wirkt der Umgang mit den Demos für jene, die nicht teilnehmen, befremdlich. Letzten Frühling wurden Leute gestraft, die allein auf einer Parkbank saßen. Heute werden bei Demos sämtliche Maßnahmen missachtet und es gibt scheinbar wenig Konsequenzen.
Macht die Pandemie die Fortschritte, die die Gesellschaft in den letzten Jahren in Sachen Wir-Gefühl gemacht hat, zunichte?
Natürlich ist die Stimmung im Land eine andere als noch vor einem Jahr. Auch nachdem die unmittelbare Pandemie überstanden ist, was im Sommer dank Impfungen der Fall sein soll, wird viel von dieser vermeintlichen Spaltung bleiben. Umso wichtiger wird es sein, dass die Corona-Hilfsmaßnahmen, die weiter laufen werden müssen, auch subjektive Existenzängste ansprechen. Denn die Forschung zeigt, dass sich Ausgrenzungstendenzen gerade in ökonomischen Krisen verstärken. Umgekehrt kann mit einer physischen Annäherung auch das Wir-Gefühl wieder größer werden.
Populisten kapern den „Wir“ Begriff gerne für ihr Narrativ „Wir für euch gegen die anderen“. Was kann man dieser Vereinnahmung entgegensetzen?
Ich argumentiere ja für ein solidarisches „Wir“ – und zwar ohne große Begriffe wie Zivilcourage oder christliche Barmherzigkeit, sondern aus simplem Eigennutzen. Denn die Empirie zeigt uns, dass eine Gesellschaft, die nicht ausgrenzt, sondern Diskriminierung abbaut, stärker, gesünder und reicher ist und damit vom starken „Wir“ profitiert.
So mancher würde diesen Ansatz Sozialromantik nennen.
(lacht) An diesen Vorwurf gewöhnt man sich als Sozialwissenschaftlerin. Aber schauen wir uns Italien an. Dort hat sich das Virus in den Modemetropolen auch deshalb so schnell verbreitet, weil dort viele undokumentierte Näherinnen unter widrigen Bedingungen arbeiten. Die keinen Zugang zum Gesundheitssystem hatten und auf engstem Raum leben. Geschadet hat es am Ende aber der ganzen Gesellschaft. Dieses Bewusstsein sollten wir aus dieser Pandemie mitnehmen.
In einem Interview haben Sie kürzlich erklärt, dass Migranten öfter und schwerer an Corona erkranken. Woran machen Sie das fest und warum ist das so?
Ich muss vorausschicken, dass sich dieser Befund auf Daten anderer OECD-Ländern und auf Erfahrungsberichte aus Spitälern stützt. Denn Österreich und Deutschland erheben diese Daten nicht. Ein Grund für diesen Umstand ist die hierzulande starke Verknüpfung von ethnischer mit sozialer Herkunft. Armut führt nachweislich zu einer schlechteren Gesundheit, zu mehr Vorerkrankungen und zu fehlendem Schutz, weil man auf engem Raum lebt. Und: Migrantinnen und Migranten sind in den systemerhaltenden Berufen überrepräsentiert. Die Politik hat zudem vor allem im Sommer innerhalb des „Wirs“ differenziert in ein „Wir“ und „die anderen“ und damit in den ohnehin Defizit-orientierten Migrationsdiskurs eingezahlt.
Ist Abgrenzung per se denn immer etwas Schlechtes?
Im Gegenteil. Abgrenzung zu anderen ist wichtig, um die eigene Identität zu entwickeln. Die Abwertung anderer ist hingegen die Schattenseite des „Wirs“. Damit ist das gezielte „Fremdermachen“ der anderen gemeint, nämlich fremder, als sie eigentlich sind. Ein Beispiel dafür war die Erzählung, das Virus komme aus dem Ausland und der dezidierte Appell an die „Balkan-Rückkehrer“, sich Corona-konform zu verhalten. Heimische Urlaubsrückkehrer wurden nicht gesondert adressiert. Die radikalste Form eines solchen Fremdmachens haben wir 2015 und 2016 gesehen, als ankommende Flüchtlinge als Welle oder Flut bezeichnet wurden. Und damit als absolute Bedrohung.
Sehen Sie Parallelen zwischen der Pandemie und der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015/16?
Viele heutige Corona-Leugner waren damals gegen Migration und sind mit fast identen Verschwörungstheorien aufgetreten. Damals hießt es, George Soros hätte uns die Flüchtlinge geschickt. Heute heißt es, er hat uns das Virus geschickt. Aus diesen Parallelen sollte man lernen und Hintergründe auch politisch adressieren.
Hintergründe wie Verlust- und Abstiegsängste?
Man muss betonen, dass viele solcher Ängste subjektiv sind. Es heißt oft, das beste Mittel gegen Verschwörungsideologien seien Bildung und Information. Das stimmt so aber nicht, denn Sie finden unter den Corona-Leugnern auch viele Akademiker, die gut abgesichert sind. Ein diffuses Bedrohungsgefühl, gepaart mit Ohnmacht, motiviert Menschen dazu, sich von anderen abgrenzen zu wollen. Es wäre also zu kurz gegriffen, zu meinen: Wir schaffen ökonomische Ungleichheit und damit Rassismus und Ausgrenzung ab. So einfach ist es leider nicht.
Wie soll man diesem Phänomen dann begegnen?
Ich glaube, dass die Dinge immer eingeordnet werden müssen. Politik und Medien fordern oft „harte“ Zahlen und Statistiken. Was aber Zahlen ohne richtigen Kontext anrichten können, hat die Debatte um den angeblichen Versprecher von Innenminister Nehammer diese Woche gezeigt, als es um die Anzahl der „aufgenommenen“ unbegleiteten Minderjährigen ging. Ohne Kontext und Einordnung entstehen falsche Eindrücke, die erst recht wieder zu Ressentiments führen – und in weiterer Folge zu Ausgrenzung.