Es ist ein Aufreger, der sich zu einer handfesten Koalitionskrise auswachsen könnte: Bundeskanzler Sebastian Kurzkritisiert die Verteilung von Impfstoff auf die EU-Länder, spricht von einem "Basar", davon, dass es Nebenabreden gäbe und dass daher manche Länder schneller als andere durchgeimpft sein würden als andere. Gleichzeitig fordert seine ÖVP die Suspendierung der zuständigen Beamten im grün geführten Gesundheitsministerium - ein Affront dem Koalitionspartner gegenüber, noch dazu wo der zuständige Rudolf Anschober gerade krank ist.
Aber was steckt hinter dem Streit? Eine kurze Spurensuche.
Zu gären begonnen hat das Thema jedenfalls, als Kurz auf seiner Israel-Reise vor einigen Tagen mit der ebenfalls angereisten dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen über die jeweiligen Strategien gegen die Seuche geplaudert hatte, so der Kanzler gegenüber der Kleinen Zeitung. Die Sozialdemokratin habe ihm erzählt, dass im Mai Dänemark durchgeimpft sein werde - und damit weit früher als Österreich.
Kommentar von Georg Renner
Dramatische Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten
Zurück in Wien habe er seine Mitarbeiter beauftragt, der Frage nachzugehen, wie solche Verzerrungen möglich seien, hätten sich doch die Regierungschefs bei einem EU-Sondergipfel darauf verständigt, dass alle Länder im selben Tempo mit dem Impfstoff versorgt werden. Dem ist nun eben nicht so, wie ein Blick in die entsprechende EU-Datenbank offenbart: Während in Malta schon jeder sechste Erwachsene die erste Dosis einer Impfung bekommen hat, ist es in Bulgarien weniger als jeder zwanzigste:
Österreich liegt hier im Mittelfeld der verabreichten Impfungen. Aber während manche Schwankungen zwischen den Staaten sich mit nationalen Impfstrategien erklären lassen: Der große Treiber für die Impfgeschwindigkeit ist der Takt, in dem neue Lieferungen eintreffen. Und die kommen, weil sich die EU-Staaten darauf verständigt haben, ausschließlich über die von der Union mit den Herstellern abgeschlossenen Verträge zu beziehen. Also: Kurz hat recht, die Staaten werden nicht gleichmäßig beliefert.
Daraus folgern zwei Fragen: War das so vereinbart - und wenn ja, wer hat das autorisiert?
Staaten können Impfstoff beziehen, sie müssen aber nicht
Einfacher zu beantworten ist die erste Frage: Ja, das ist so paktiert. Denn die Union hat, vertreten durch die Kommission und Experten aus den Mitgliedstaaten, mit den Herstellern (derzeit die zugelassenen Biontech/Pfizer, AstraZeneca, Moderna und Johnson&Johnson sowie mit CureVac und Sanofi-GSK) nur Bezugsmengen vereinbart, die die Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen können, aber nicht müssen.
Sehr vereinfacht gesagt: Jeder Mitgliedstaat hat ein Kontingent am Impfstoff jedes Herstellers, das seinem Anteil an der EU-Gesamtbevölkerung entspricht. Österreich könnte also zum Beispiel jeweils zwei Prozent der EU-Gesamtmenge von Biontech, AstraZeneca usw. kaufen. Würden das alle Staaten voll in Anspruch nehmen, bekämen alle gleichmäßig Impfstoff geliefert, das eingangs erwähnte Problem würde nicht existieren. Die EU-Kommission sagt, sie habe empfohlen, dass diese strikte Pro-Kopf-Quote eingehalten werde.
Aber: Die Mitgliedstaaten wollten es anders. Sie hätten eine Flexibilisierung gewollt, die es erlaubt, von dieser strikten Pro-Kopf-Verteilung abzuweichen. "Beschließt ein Mitgliedstaat, seine anteilige Zuteilung nicht in Anspruch zu nehmen, so werden die Dosen im Rahmen dieses Systems auf andere, Interesse bekundende Mitgliedstaaten umverteilt", heißt es seitens der Kommission.
Osteuropa setzte primär auf AstraZeneca
Und das ist genau der "Basar", den Kurz erwähnt. Unterschiedliche Staaten haben aus unterschiedlichen Gründen auf verschiedene Impfstoffe gesetzt: Bulgarien, das Schlusslicht, hat zum Beispiel fast ausschließlich auf den Impfstoff von AstraZeneca gesetzt, wie die "Presse" in einer ausgezeichneten Aufstellung aufgegliedert hat - weil dieser wesentlich billiger angeboten worden ist als die anderen.
Das spart dem Staat Geld - aber kostet Impfgeschwindigkeit, vor allem, weil AstraZeneca immer wieder Lieferschwierigkeiten hatte. (Die Kommission hatte die Staaten übrigens schon im Oktober ersucht, die Mittel für die EU-Nothilfe aufzustocken, damit die Union finanzschwächere Staaten beim Kauf der Vakzine unterstützen könne.)
Solche Kontingente kamen dann auf den EU-internen Markt - und hier kommt zum Beispiel Malta ins Spiel, das die von den Osteuropäern geschmähten teureren Kontingente aufkaufte. Weil auf der Insel nur knapp über 500.000 Menschen leben, kam man durch diese "Restlverwertung" schnell auf einen beeindruckenden Impfanteil.
Auch Österreich nutzte nicht alle Möglichkeiten
Und Österreich? Wie das Gesundheitsministerium am Samstag in einer eher verklausulierten Presseaussendung bekanntgegeben hat, hat die Republik ebenfalls nicht alle Optionen auf Impfstoff genutzt, die die EU-Verträge ihre gegeben hätten: "Nach damaligem Kenntnisstand galten AstraZeneca und Moderna als aussichtsreichste Kandidaten, weshalb von den Fachleuten des Gesundheitsministeriums wie von vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten vorrangig dieses Kontingent voll ausgeschöpft wurde und bei BioNTech/Pfizer nahezu ebenso". "Nahezu ebenso" - das klingt eher, als ob Österreich heute mit mehr Biontech/Pfizer-Impfstoff dastehen könnte.
Wirklich nachvollziehbar ist das alles auf Basis öffentlich zugänglicher Dokumente nicht - welchen Anspruch Österreich zu welchem Zeitpunkt auf wie viele Dosen welchen Impfstoffs hatte, wissen nur Eingeweihte.
Was die Frage nach der Verantwortung eröffnet - und hier wird es trübe. Im Kanzleramt und der ÖVP sieht man sich jedenfalls außen vor gelassen und schießt sich auf die Spitzenbeamten des Gesundheitsministeriums ein, Generalsekretärin Ines Stilling und Corona-Sonderbeauftragten Clemens Martin Auer, der Österreich auch im EU-Beschaffungsgremium vertritt (und übrigens seinerseits ÖVP-Vergangenheit hat).
Streit um die Verantwortung
Das Ministerium (dessen Minister wie erwähnt aktuell erkrankt ist) wiederum verweist auf den dauernden Abgleich mit dem Bundeskanzleramt bei der Beschaffung - und dass die Liefermengen "in mehreren Ministerratsvorträgen verankert" gewesen seien - was den Vorteil hätte, dass Kurz des Einstimmigkeitsprinzips im Ministerrat wegen dann nicht behaupten könne, von nichts gewusst zu haben.
Eine Suche in den öffentlichen Ministerratsprotokollen stützt diese Aussage des Ministeriums nur bedingt: Schon wahr, dort steht viel über diverse Zahlen, wie viel wer wann um wieviel Geld liefern soll - nur die Gretchenfrage, wie viel Österreich hätte beziehen können, wird in diesen Vorträgen nicht beantwortet.
Allerdings: Am Ende eines solchen Papiers findet sich der Verweis auf den "Basar": "Nicht benötigte Impfstoffdosen dürfen generell auch weitergegeben werden, im Sinne von Spenden oder Weiterverkauf. Dazu beteiligt sich Österreich bereits an einer koordinierenden Arbeitsgruppe auf Europäischer Ebene und ist bilateral auch bereits in Gesprächen." Zumindest dieser Aspekt dürfte also eigentlich keine Überraschung für die Regierungsmitglieder gewesen sein.
Wie geht es nun weiter? Der Kanzler fordert vom Koalitionspartner die volle Offenlegung und "volle Transparenz über Vereinbarungen". Man darf gespannt sein.