Als ich studierte, gab es kluge Köpfe, die man als „Querdenker“ bezeichnete. Darunter fanden sich die Vorreiter jener Denkweisen, die vom Establishment, ob links oder rechts, skandalisiert und bekämpft wurden. Naturschützer, Gegner der Atomkraft und des Wettrüstens, Feministinnen, Kritiker der herrschenden Geschlechtsmoral, Verfechter der Meinungs- und Redefreiheit, Wortführer der Chancengleichheit und sozialen Gerechtigkeit – kurz: ein buntes Patchwork.
Namen wie Günther Anders, Robert Jungk, Erwin Chargaff, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno oder Paul Feyerabend waren im geisteswissenschaftlichen Seminar viel diskutiert. Sie alle standen als Denker „quer“ zu den herrschenden Verhältnissen, sie alle waren daran beteiligt, uns Jüngeren ein kritisches Denken nahezubringen, das sich durch eine wesentliche Eigenschaft auszeichnete: Es sollte nicht drauflosideologisiert, sondern mit Argumenten differenziert Position bezogen werden. Populistische Ansichten sollten entlarvt und durch wahrheitsbezogene Überzeugungen ersetzt werden.
Zugegeben, das Bild, das ich skizziere, ist begradigt, nostalgisch verbrämt, doch angesichts der großen Namen, die heute in Vergessenheit geraten, sei dem alten Querkopf – mir – nachgesehen, wenn er weichzeichnet. Denn worum es geht, ist der Missbrauch des guten Namens „Querdenker“. Was ist passiert?
Exemplarisch: Anfang September 2020 berichtet der Bayerische Rundfunk über eine Demonstration in Berlin. „Vor dem Bundestag versuchten Rechtsextreme und Reichsbürger, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Sie konnten dabei allerdings lediglich die ersten Stufen erklimmen und dennoch ein Symbolbild inszenieren.“ Bezogen auf unterschiedliche Orte trifft jene Schilderung auch für Österreich zu. Immer geht es, laut Nachrichtenbefund, den Demonstranten nicht um das Faktum des Protests an sich, sondern darum, „Symbolbilder“ zu erzeugen. Das ist nicht unbedingt neu, allerdings ist das Etikett, das die Teilnehmer derartiger Veranstaltungen für sich in Anspruch nehmen, einigermaßen erstaunlich: „Querdenker“.
Unter ihnen finden sich Coronaleugner, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker – das Virus aus der chinesischen Provinz Wuhan wurde in einem Geheimlabor gezüchtet, oder? Unter die Gemengelage aus Ignoranten, Unzufriedenen und Verängstigten mischen sich Rechtsradikale, Neonazis und gewaltbereite Chaoten. Außer Zweifel steht, dass es daneben ehrlich Besorgte gibt, die um die liberalen Grundrechte bangen.
Doch da sich die überwiegende Zahl der Protestierer ohne Mundschutz und vorgeschriebenem Sicherheitsabstand, stattdessen Anti-Corona-Parolen skandierend, durch die Straßen bewegt, verweigert die Behörde immer öfter derlei Demonstrationen; das Verhalten der Polizei wird zunehmend strikter, vereinzelt werden Festnahmen vollzogen, was die Wut der Masse steigert, obwohl sie eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellt.
Wirft man einen Blick in den digitalen Duden, dann erfährt man unter den Stichwörtern „Querdenkerin/Querdenker“, was der Begriff bedeutet: „weibliche/männliche Person, die eigenständig und originell denkt und deren Ideen und Ansichten oft nicht verstanden oder akzeptiert werden“. Im Wiktionary, dem Wiki-basierten Wörterbuch, finden sich Beispielssätze. „Der Verfasser ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass eine Nation ohne Querdenker ebenso verarmen würde.“ Und: „Was die kreativen Querdenker aber keinesfalls daran hinderte, ihr einmal durchdachtes Konzept in die Tat umzusetzen.“
Wir erfahren, dass jede Nation ohne Querdenker verarmen würde. Freilich gibt dieser Befund keine Einschätzung der neuen Querdenkerszene wieder, sondern stammt – keine Ahnung, warum – aus Michael L. Hadleys Buch „Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe“ aus dem Jahr 2001. Sind die „Neuen Querdenker“, denen die Toten der deutschen U-Boot-Waffe herzlich egal sein dürften, etwa eine Bereicherung jener Nationen, deren Tote auf das Konto von Corona gehen?
Der Satz wiederum, wonach die „kreativen Querdenker“ ihr „durchdachtes Konzept“ in die Tat umsetzen, wurde einem Werk aus dem Jahre 2009 entnommen, dem sogenannten Eichsfeld-Report von Matthias Kaiser, der, laut Untertitel, „außergewöhnliche Einblicke in die Bewirtungskultur einer unbeugsamen Region“ bietet. Eichsfeld ist ein Landkreis in Thüringen; die dortigen Querdenker sind Gastronomen, originelle Köche der Art Cuisine. Sie sollten auf keinen Fall mit jenen verwechselt werden, die 2021 womöglich als wandelnde Virenschleudern durch Eichsfeld marschieren.
Kurzum, man liest und staunt. Werden Demonstrationen verboten, weil die Behörde originelle Ideen zu unterdrücken wünscht? Geht unsere Polizei gegen unliebsame eigenständige Ansichten vor? Man muss sich bis zum Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, DWDS, durchklicken, um zu erfahren, dass der Corona-Querdenker „spezieller“ zu beurteilen sei. Denn, so steht zu lesen: „Person, die die Coronamaßnahmen für überzogen hält und sich dabei zum Teil auf wissenschaftliche Minderheitenmeinungen beruft, vor allem aber solche Informationen zur Bekräftigung ihrer Überzeugung heranzieht, die bei Experten als unsachlich bzw. falsch oder als zu stark vereinfacht gelten.“
Über solch holprig formulierte Wörterbucheinträge hinweg fragt sich unsereiner, der einst stolz war, „Querdenker“ genannt zu werden, wie es kommen konnte, dass nun eine diffuse Masse von Ängstlichen, Unzufriedenen und Krawallmachern allgemein als Bewegung der „Querdenker“ auftrumpft. Die Antwort ist fast zu banal: Es waren nicht zuletzt die seriösen Medien, die wesentlich mithalfen, den einst honorigen Begriff zu pervertieren. Sie nämlich waren es, die das dummdreiste Begriffsgehabe im Internet und am Boulevard in ihre Berichtsterminologie aufnahmen, meist ohne Anführungszeichen, ob geschrieben oder gesprochen.
Damit wurde den alten störrischen Köpfen – den Querdenkerköpfen von einst – ein denkbar schlechter Dienst erwiesen. Wer heute gegen den Strom der Gedankenlosigkeit ankämpft, muss sich zugleich vor der Etikettierung als „Querdenker“ hüten. Es ist eben nicht egal, wer die Macht über die Begriffe innehat, die unsere staatsbürgerliche Besorgtheit zum Ausdruck bringen.
Zugegeben, unter den neuen Querdenkern gibt es auch solche, deren akute Ängste nicht völlig grundlos nach Öffentlichkeit verlangen. Doch solche Besorgten sollten sich möglichst rasch aus dem Dunstkreis der Irrwische und Paranoiker begeben. Höchste Zeit, die zunehmende Macht des Meinungspöbels zu brechen! Wir sollten seinen Anführern keine Begriffshoheit zugestehen. Hassprediger – diesfalls nicht islamistische, sondern auf dem liberalen Boden des säkularen Staates gewachsene – sind keine Querdenker; sie denken nicht, sie hassen.
Peter Strasser