In den Jahren um den Zweitausender schien alles in Ordnung. Ein paar Kleinigkeiten noch – sonst hatte man alles im Griff. Dachte man. Geschichte und Politik schienen in der westlichen Welt von Alternativlosigkeit geprägt. In einer globalisierten marktwirtschaftlich-technisierten Welt würde nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus die große Konvergenz aller Länder stattfinden, die Welt würde friedlich und wohlhabend. Innenpolitisch würde man bei Staatsausgaben, Pensionsbeiträgen und Klimapolitik vorsichtig sein müssen, aber ohne Zweifel würde der Reichtum regelmäßig zunehmen.
Ergänzt wurde die wirtschaftliche Perspektive durch die nach dem „Ende der Geschichte“ eintretende Demokratisierung aller Staaten und Kontinente, einschließlich des kapitalistischen Chinas. Europa und Euro: ohnehin Erfolgsgeschichten. Barack Obamas Wahl: ein Signal des postrassistischen Zeitalters. Das Netz versprach unbegrenzte Information und Kommunikation: eine Plattform für Öffentlichkeit, Diskurs und Partizipation. Die Stimmung war gut.
Unschönheiten ausgeblendet
Das blieb nicht so. Man hatte ein paar Unschönheiten ausgeblendet und Erfolgsbilder überhöht. Seit den 1970er-Jahren war klar, dass die Logik des weltweiten Wirtschaftswachstums an Grenzen stoßen würde. Die Finanzwirtschaft löste sich immer mehr von der Realwirtschaft. Die Umweltpolitik kam nicht vom Fleck. China begann die Modernisierungstheorie zu ruinieren, in der die Kombination von erfolgreicher Marktwirtschaft und politischer Diktatur nicht vorgesehen war. Der Ex-Ostblock lief nicht so recht. Die demografische Ausdünnung der peripheren und ländlichen Zonen in Europa ignorierte man. Die Stimmung wurde schlechter und Proteste wurden häufiger.
Der Terror wurde auch in der westlichen Welt zum ständigen Begleiter. 2008 die große Weltwirtschaftskrise, die man für unmöglich gehalten hatte. 2015 die Migrationskrise, deren Tragweite man nicht begriff. Das Internet erwies sich als Quelle der Systemselbstbeschädigung. Autoritäre Nationalismen bekamen Aufwind. Die USA als Ikone von mehr als zweihundert Jahren nachahmenswerter Demokratie hatten immer ein geschöntes Bild dargeboten: nun aber die das westliche Vorbildbewusstsein zerstörende Figur des Donald Trump, bis hin zum Putsch seines wütenden Mobs. Der für die europäische Vision katastrophale Brexit. Da sank das Stimmungsbarometer ganz gewaltig.
Kulturelle Grundbedürfnisse
Die Phänomene knabbern an den kulturellen Grundbedürfnissen. (1) Orientierung: Viele Menschen sind von der Komplexität der Verhältnisse, vor allem ihrer Beschleunigung, überfordert. Man kennt sich nicht mehr aus: Kindererziehung, Digitales, Gender, Nahrung, Gesundheit, Job. (2) Wertewelten: In der fragilen Pluralität der Verhältnisse und Individualismen ist der Kosmos der Werte ins Durcheinander geraten. Was gilt eigentlich noch? (3) Gemeinschaftsgefühl: Zugehörigkeit, Einbettung, Heimat gehen in Globalität und Kosmopolitismus verloren. Man ist nicht mehr zu Hause, vermisst Resonanz. Die Welt antwortet nicht mehr. (4) Wohlstand: Er war als selbstverständlich wahrgenommen worden, er scheint es nicht mehr zu sein. (5) Sicherheit: Eine grundlegende Aufgabe des Staates, die nur noch partiell zu leisten ist.
Das alles bedeutet: Nichts ist mehr normal. Das Verhältnis zur Welt befindet sich im Kollaps. Es baut sich ein Potenzial von Ressentiment und Aggressivität auf. Nicht Wut auf das eine oder andere Ereignis – einfach eine undifferenzierte Wut auf alles. Wegen Machtlosigkeit, wegen Überforderung, wegen der eigenen Unwirksamkeits- und Defiziterfahrung. Die Wut heftet sich, quer durch Europa, an Themen, die gerade des Weges kommen.
Postmoderne Anti-Bewegung
Es ist die Epoche der postmodernen und popmodernen Anti-Bewegung. Man kann gegen dies und das sein, auch das Gegenteil zugleich fordern, heute dies und morgen jenes. Diese Emotion lässt sich mit den klassischen politischen Kategorien links und rechts nicht erfassen: Es ist die Meta-Ideologie des „Antismus“: gegen oben und unten, gegen Virus und Konzerne, gegen Elite und Wissenschaft, gegen Intellektuelle und Journalisten, gegen Wahrheit und schlechtes Wetter.
In den letzten zwanzig Jahren hätte uns klar werden können: Wir haben die Kontinuität und Stabilität der westlichen liberal-demokratischen Systeme überschätzt. Wir befinden uns in einem Umbruch, den wir nicht einmal definieren können. Im Kollaps des Weltverstehens (nicht: der Welt) können wir einzelne Phänomene aufzählen, aber sie fügen sich nicht mehr zu einem Konzept. Traditionelle Gesellschaften mögen vieles falsch verstanden oder nicht gewusst haben, aber sie hatten das Gefühl, zu verstehen. Man befand sich physisch, psychisch, geistig, spirituell „zu Hause“. Heute verstehen wir nicht einmal unser Nichtverstehen. Das ruiniert die Stimmung. Unbehagen steigt. Ressentiments bauen sich auf.
Attacke aus unerwarteter Richtung
Und dann noch die Epidemie: eine Attacke aus unerwarteter Richtung, aus der Körperlichkeit, der Biologie, der Evolution. Die Beherrscher der Erde sind auf ihren Status als eine Spezies unter vielen anderen zurechtgestutzt. Anfänglich ging ein Ruck durch die verwöhnte europäische Landschaft, aber das reichte nur für ein kurzes Aufblitzen solidarischer Stimmung. Der Begriff der nach vielen Monaten gewachsenen „Corona-Müdigkeit“ ist ein freiwilliges Bekenntnis der Vernünftigkeitssuspendierung: Viele geben sich ihren Gefühlen und kurzfristigen Wünschen hin, als wären sie kleine Kinder, und haben „es“ noch immer nicht verstanden – bis zum Extrem der tirolerischen Selbstvernichtungskabarettisten.
Aber jenseits solcher Skurrilitäten gilt: Wir haben keine Alternativgeschichten mehr zu erzählen, über das Arbeiten und Kaufen, über das Lieben und Leben. Es mangelt an Narrativen, Storys, Visionen. Viele Bücher sind auf dem Markt, die eine entschiedene Wende, ein anderes System, eine neue Entwicklungslogik fordern; aber jenseits der wohlfeilen Phrasen haben sie nicht viel zu bieten. Der Jenseitsglauben ist weg, der Diesseitsglauben ist weg – es bleiben eine Stimmung der (manchmal durch Entertainment kompensierten) Verlorenheit, Rundum-Geraunze und hilflose Wut bei denen, die sich schwerer tun.
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Doch wir sind immer noch die Luxusecke der Welt. Vieles ist Wehleidigkeit auf Verwöhnungsniveau. Die verbliebene Kraft könnte man besser dazu nutzen, sich in der neuen Welt einzurichten, denn sie wird bleiben: In der Welt von explodierendem und zugleich unsicherem Wissen; von Wertevielfalt und -inkonsistenz; von fragiler Gemeinschaft, in der man gleichzeitig bewahren und öffnen muss; von modifizierten Lebensansprüchen, vielleicht gar mit ein bisschen Reflexion und Bescheidenheit; von reduzierter Sicherheit, die in angemessener Dimension erst wahrzunehmen wäre. Ein neues Leben erfinden: Ohne den Einsatz verbliebener Lernfähigkeitsreste wächst kein neuer, tragfähiger Weltbezug. Sicher ist bloß, dass er nicht aus der Wut geboren wird. Wut ist Resignation.
Manfred Prisching