Die Hoffnung mancher Grüner, dass infolge der dramatischen Bilder aus Moria wie auch der jüngsten Abschiebung innerhalb der ÖVP ein Gärungsprozess stattfindet und der christlich-soziale Flügel einen Kurswechsel herbeiführt, bleibt Wunschdenken. „Es mag schon sein, dass einige in der ÖVP die Ereignisse mit der geballten Faust in der Hosentasche verfolgt haben“, erklärt Politikberater Thomas Hofer. „Solange Sebastian Kurz große Wahlsiege einfährt, in den Umfragen so gut dasteht, ein solcher Erfolgsmagnet ist, wird niemand seinen Kurs infrage stellen.“
Hofer wie auch andere Experten erinnern an zwei tektonische Verschiebungen im Laufe des letzten Jahrzehnts. „Seit der Flüchtlingswelle 2015 hat sich das Migrationsspektrum deutlich nach rechts bewegt“, konstatiert Hofer - ein Umstand, den SPÖ-Kanzler Christian Kern nie wahrhaben wollte und der zur roten Wahlschlappe geführt hat. Mehr als auffällig war die Zurückhaltung, die Alexander Van der Bellen im Präsidentschaftswahlkampf bei der Migration an den Tag gelegt hat. Hätte sich Van der Bellen 2016 so kantig positioniert wie im letzten Video („Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo das in dieser Form notwendig ist“), wäre er kaum in die Hofburg eingezogen.
ÖVP-Wählerschaft hat sich verändert
Die zweite tektonische Veränderung betrifft die ÖVP. „Reinhold Mitterlehners Elektorat unterscheidet sich deutlich von jenem seines Nachfolgers“, erklärt ein ÖVP-naher Meinungsforscher. Kurz rückte 2017 nach rechts, fischte im Wählerteich der FPÖ, des BZÖ, des Team Stronach und triumphierte mit der Strategie. Mitterlehner lag in Umfragen nie über 23 bis 26 Prozent. Der renommierte Wahlforscher Wolfgang Bachmayer verweist auf die überschaubare Abwanderung christlich-sozialer Anhänger an die Neos wie auch später an die Grünen, die sich 2019 unter Werner Kogler „deutlich verbürgerlicht“ haben. „Wenn Kurz vor der Frage steht, ob er Signale an den christlich-sozialen Flügel aussenden soll oder an das rechte Wählersegment, ist die Antwort eine einfache.“ Allerdings, und darin sind sich alle Meinungsforscher einig: „Sollte der Zwist zum Dauerzustand werden, könnte das die Koalition ins Wanken bringen.“
Die türkis-grünen Spannungen der letzten Tage zeigen einmal mehr den euphemistischen Charakter des Slogans „Das Beste aus zwei Welten.“ In der Migrationspolitik leben Türkis und Grüne in unterschiedlichen Galaxien. Wenn den Türkisen etwas schlaflose Nächte bereitet, dann sind es Corona, das holprige Krisenmanagement, insbesondere die sich aufstauende Wut in Teilen der Bevölkerung. Bezeichnend ist, dass sich Kurz zu den Abschiebungen nur in einem Interview in der deutschen „Welt“ geäußert hat: „Man hat als Staatsbürger und Politiker das Recht, eine Gerichtsentscheidung persönlich als falsch zu empfinden. Aber wichtig ist, dass man sie respektiert.“