Dieses Dokument hat das Potenzial die Koalition zu sprengen: Am Mittwochnachmittag veröffentlichte die Wiener Landesgruppe der Grünen eine „Wiener Erklärung“. Darin werfen die Hauptstadt-Grünen der ÖVP vor, „der gesamten Regierung ein unmenschliches Antlitz verpasst“ zu haben. Mit der Weigerung, hundert Familien aus dem Flüchtlingslager Moria aufzunehmen und der Abschiebung von in Österreich aufgewachsenen Kindern wurden „klar rote Linien überschritten“, erklären die Wiener Grünen.
Sie fordern ein Abschiebeverbot für Kinder und Jugendliche, die in Österreich aufgewachsen sind und wollen die 2014 abgeschaffte Härtefallkommissionen auf Länder- und Gemeindeebene wieder einführen, die humanitäres Bleiberecht erteilen kann.
Das Timing ist kein Zufall: Am heutigen Donnerstag werden SPÖ und NEOS bei der Sondersitzung im Nationalrat ein humanitäres Bleiberecht beantragen. Laut Koalitionspakt müssten die Grünen das gemeinsam mit der ÖVP ablehnen. Aber im Grünen-Klub gibt es dagegen massiven Widerstand.
"Rückenstärken" vor der Nationalratssitzung
Die „Wiener Erklärung“ bringt einen Konflikt zu Papier, der sich über Tage verbal aufgebaut hat. Klubchefin Sigrid Maurer übte im ORF Report scharfe Kritik an Innenminister Karl Nehammer. „Wenn er wirklich so betroffen ist, muss er entsprechend reagieren“, sagte Maurer. Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler hat in den „Vorarlberger Nachrichten“ Herz und Hirn bei der Abschiebung von Kindern vermisst und gemeint, dass mittlerweile die Grünen die Partei seien, die christliche Werte vertreten und nicht die türkise ÖVP.
Außerdem hat sich der grüne Abgeordnete Michel Reimon, der für ÖVP-kritische Äußerungen bekannt ist, auch im Konflikt um die Abschiebungen von Minderjährigen mit scharfer Kritik am Koalitionspartner zu Wort gemeldet. "Die Koalition wird so nicht weiter gehen können wie bisher, das ist ganz klar", in gewisser Art und Weise reiche es schon, sagte Reimon auf "Puls 24" Mittwochabend. Es sei "völlig inakzeptabel", wie sich Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) zu diesem Thema geäußert habe.
Die stellvertrentende Generalsekretärin der ÖVP, Gabriela Schwarz, sieht trotz der massiven Kritik der Grünen sieht „kein Konfliktpotenzial“ in der Koalition. Man habe von Anfang an gewusst, dass es bei diesem Thema schwierig werden.
Das argumentieren auch die Wiener Grünen, die aller Kritik zum Trotz weiter mit der ÖVP regieren wollen. „Wir werden sicher nicht einer Pandemie die Koalitionsfrage stellen“, sagt Peter Kristöfel, der interimistische Grünen-Chef in Wien. Man wolle jedoch ein Signal an die Basis senden und Druck auf die ÖVP ausüben. Außerdem soll dem Parlamentsklub im Vorfeld der Nationalratssitzung, bei der es Oppositionsanträge auf eine Rückholung der abgeschobenen Kinder geben wird, der Rücken gestärkt werden.
Die Offensive der Grünen kommt wenige Tage, nachdem Bundeskanzler Sebastian Kurz einen zuvor als Gerücht kursierten fliegenden Koalitionswechsel zur SPÖ dezidiert ausgeschlossen hatte. Der Parteichefin Pamela Rendi-Wagner, mit der die Kanzlerpartei zuletzt konstruktiv zusammen arbeitete, stärkt die ÖVP trotzdem den Rücken - wenn auch über Umwege. Gabriela Schwarz richtete der SPÖ öffentlich aus, „eine Doppelstrategie“ zu fahren, weil von Rendi-Wagner kritisierte Öffnungsschritte vom Wiener Bürgermeister Michael Ludwig mitgetragen wurden und von der burgenländischen SPÖ als zu wenig weitgehend kommentiert wurden. Für Schwarz „stellt sich die Frage, wer in der SPÖ das Sagen hat."
Veronika Dolna