Gegen Sonntagmittag ist es noch ruhig. Der Maria-Theresien-Platz und das Areal vor dem Burgtor in Wien füllen sich langsam mit Menschen. Im Wind wehen einige rot-weiß-rote Fahnen, in den Gesichtern sind da und dort Masken zu sehen. Nachdem die Wiener Landespolizeidirektion den Großteil der für das vergangene Wochenende angemeldeten Demonstrationen wegen Gefährdung des öffentlichen Wohls untersagt hatte, riefen die Organisatoren stattdessen zu einer Prozession, einem Spaziergang oder einer Wallfahrt auf. Auch die FPÖ wollte eine Kundgebung abhalten, die verboten wurde. Klubobmann Herbert Kickl verlegte seine Kundgebung kurzerhand ins Internet, stellte sich aber hinter die Organisatoren. In der Innenstadt war die Polizeipräsenz groß.
Plötzlich eine Demo
Um Punkt ein Uhr ändert sich die Stimmung schlagartig. Die Menschen stürmen den Ring, die Anzahl der Fahnen steigt plötzlich um ein Vielfaches, jene der Masken sinkt ebenso rasch. Rund 5000 Demonstranten stehen der Polizei zufolge zwischen Burgtor, Naturhistorischem und Kunsthistorischem Museum. Wie bei der Demonstration vor zwei Wochen versammelt sich eine alles andere als homogene Gruppe. Eine Tafel mit der Aufschrift "Angst macht krank" wird in die Höhe gehalten, daneben eine Fahne der US-amerikanischen Verschwörungserzählung Q-Anon und ein Transparent, demzufolge eine "Gesundheitsdiktatur" herrsche. Gläubige, die um göttliche Hilfe beten, marschieren neben Familien mit Kleinkindern, Neonazis und Identitären. Sie alle zeigen sich durch zwei Feindbilder vereint, Bundeskanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP). Die Parole "Kurz muss weg" ist an diesem Nachmittag omnipräsent, aus Lautsprechern ist mehrmals zu hören, dass Nehammer der Einzige hier sei, der die öffentliche Ordnung gefährde.
Die Stimmung ist ebenso schnell aufgeheizt, wie die Fahnen in der Luft waren. Masken, Medien und Bill Gates werden in Sprechchören beschimpft. Nach nicht einmal zehn Minuten löst die Polizei die Versammlung auf und fordert alle dazu auf, das Gelände zu verlassen. Pfiffe und Buhrufe übertönen die Lautsprecherdurchsagen, bis Beamte der Sondereinheit Wega den Demo-Zug einkesseln und beginnen, Personalien aufzunehmen. Wo Demonstranten auf Polizisten treffen, kommt es zu Tumulten. Einzelne Personen attackieren Beamte, werden weggetragen und festgenommen. Zehn Polizisten werden verletzt.
Trotz Verbots durch die halbe Stadt
Während sich der Maria-Theresien-Platz langsam leert, organisieren sich die Gruppen außerhalb des Kessels. Demonstrationen bilden sich in der Mariahilfer Straße und am Ring, die später miteinander verschmelzen. Die Menschen ziehen nun zu Tausenden ohne fixe Route durch die Stadt. Zu diesem Zeitpunkt schreitet die Polizei kaum ein, was Demonstranten mit "Danke, Polizei"-Rufen kommentieren und was Innenminister Nehammer in einer Stellungnahme am Abend mit dem "Prinzip der Verhältnismäßigkeit" begründet. Darin sagt er, es sei "absurd, aber dennoch Realität", dass Kickl als ehemaliger Innenminister die Demonstrationen unterstütze.
Nach Einbruch der Dunkelheit erreicht der mittlerweile stark abgespeckte Demozug wieder den Ring, jedoch ohne einen seiner Rädelsführer, den ehemaligen Kärntner Landtagsabgeordneten Martin Rutter. Er wird im Bereich des Westbahnhofes wegen Missachtung der Covid-Bestimmungen und Widerstandes gegen die Staatsgewalt festgenommen.
"Einsatz alles andere als ein Spaziergang"
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Wiens Polizeichef Gerhard Pürstl haben am späten Abend eine erste Bilanz gezogen. Demnach wurden zehn Personen festgenommen, vier Polizisten verletzt und rund 800 Anzeigen wegen Verstöße gegen die Covid-19-Bestimmungen ausgesprochen.
"Dieser Einsatz war für die Polizisten alles andere als ein Spaziergang", sagte Nehammer. Erst gegen 19.30 Uhr war der Einsatz vorbei. Insgesamt habe sich ein "verheerendes Bild gezeigt". An den Versammlungen haben Hooligans, Personen aus der rechtsradikalen Szene, aber auch Familien teilgenommen. Die Polizisten hätten gute Arbeit geleistet, betonte Nehammer.
Eskalationen und Ausschreitungen wurden vermieden, bilanzierte Pürstl. Bei dem "herausfordernden Einsatz" haben die Polizei die Balance gehalten. Die Polizei hätte den Einsatz nicht unterschätzt, man habe gewusst, "wenn viele Demonstranten kommen wird es schwierig sein", sagte der Polizeipräsident, der den Einsatz selbst geleitet hatte. Es sei klar gewesen, dass man den Demonstranten "nachgeben muss und Raum bieten" müsse. Immerhin seien auch Mütter mit Kindern im Kinderwagen unter den Teilnehmern gewesen. Zumindest zum Schluss sei die Exekutive doch noch "sehr massiv eingeschritten", sagte Pürstl.
Nehammer betonte auch, dass der Einsatz "eine eigene Dynamik entwickelt hat", so hätten Teilnehmer unter anderem auch versucht, die Parlamentsrampe zu stürmen und das Parlament, dass derzeit renoviert wird, zu besetzten. "Es war immer notwendig taktisch neu zu entscheiden", sagte der Innenminister. Auch dieser Polizeieinsatz soll wieder evaluiert werden, damit man sich noch effizienter aufstellen könne, kündigte Nehammer an.
Übergriffe auf Journalisten
Auf Twitter kursierten am Sonntagabend Videos, die Übergriffe auf Journalisten zeigten. Davon habe die Polizei noch keine Kenntnis, hieß es am späten Abend. Man werde aber jedem Hinweis nachgehen, wo es zu Gewaltaktionen gegen die Presse gekommen sein soll, sagte Nehammer. Erneut gab er seinem Vorgänger Herbert Kickl und dessen Partei FPÖ die Schuld an den heutigen Vorkommnissen. Kickl habe Öl ins Feuer gegossen.