117. 119. 118. 117. Die 7-Tage-Inzidenz-Zahl zu verfolgen, den Goldstandard der Covid-Maßzahlen, ist eine zähe Angelegenheit, wenn man weiß, dass Experten sich wünschen, dass dieser Wert eigentlich unter 25 liegen sollte. Und dass die Politik zumindest einen Wert von 50 anvisiert hat, um über Lockerungen nachzudenken.
50 Fälle pro 100.000 Einwohner in den vergangenen 7 Tagen, das entspricht rund 700 nachgewiesenen Neuinfektionen pro Tag – und davon ist Österreich kurz vor der neuerlichen Verlängerung des dritten Lockdowns noch immer weit entfernt: 1575 Ansteckungen hat das Gesundheitsministerium am Freitag vermeldet; die Infektionskurve geht zwar tendenziell nach unten, aber nur sehr, sehr langsam. „Eine Seitwärtsbewegung“ heißt es, zunehmend frustriert, in Regierungskreisen, wo man darüber nachdenkt, wie lange man den Lockdown noch fortschreiben kann.
Natürlich wirke der Lockdown noch, heißt es aus der Runde jener, die über die Corona-Maßnahmen entscheiden –ohne Einschränkungen wären die Intensivstationen längst überlaufen, hunderte, tausende würden sterben. Aber ja, „es geht langsamer, als wir uns das gedacht haben“. Angesichts der Erfahrung mit früheren Lockdowns und internationalen Vergleichen hätte man damit gerechnet, dass die Inzidenz pro Tag etwa um 5 sinken müsste, sobald der Lockdown anschlägt – nun geht es viel langsamer
Einen Hauptverdächtigen dafür hat man inzwischen ausgemacht: Die erstmals in Großbritannien nachgewiesene Virusvariante B 1.1.7, die ansteckender als das „klassische“ Coronavirus sein dürfte, soll sich so stark in Österreich ausbreiten, dass die Effekte des Lockdowns konterkariert würden.
Im Detail nachgewiesen ist das nicht – in Wien sei bei 66 von 539 Proben das mutierte Virus festgestellt worden, so Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) am Freitag. Zahlen für ganz Österreich werden kommende Woche erwartet.
"Dynamik der Mutation entwickelt sich erst"
Dass die Mutation alleine für den nur schleichenden Rückgang der Infektionen verantwortlich ist, bezweifeln Experten. „Die Dynamik der Mutation entwickelt sich erst. Was wir bei den Infektionszahlen aktuell sehen, ist eine Mischung aus kalter Jahreszeit, der unterschiedlichen Wirksamkeit des Maßnahmenmixes und der eigenen, regionalen Messtrategie“, so Simulationsforscher Niki Popper von der TU Wien.
Er wünscht sich, dass mit sinkenden Zahlen wieder so viele Infektionswege wie möglich nachvollziehbar werden: Derzeit ist in rund der Hälfte der Ansteckungen unklar, wo sich der Infizierte angesteckt hat. Das sei zu wenig und es passiert zu langsam, sagt Popper, auch wenn ihm die enormen Anforderungen an die Gesundheitsbehörden klar seien.
Er appelliert an die Politik, die Strategie „testen, verfolgen und isolieren“ auszubauen oder Screenings anzubieten – besonders, wenn sich die Virusvariante in Österreich durchsetze, müssten Infizierte und Kontakte schnell in Quarantäne.
"Pandemic fatigue" greift um sich
Eine zunehmende psychologische Komponente sieht Thomas Czypionka, Mediziner, Volkswirt und Experte für öffentliche Gesundheit am IHS: „Der Lockdown dauert schon lange, die Leute sind müde“. Das ständige Verschieben seines Endes und die Unklarheit darüber, nach welchen Kriterien über Verlängerung oder Ende der Maßnahmen entschieden werde, nage an der Bereitschaft, sich an die Einschränkungen zu halten.
In der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ hat Czypionka gemeinsam mit anderen Experten einen „Aktionsplan für einen europäische Abwehr gegen die neue Virusvariante“ veröffentlicht. Erster, zentraler Punkt: Die Motivation der Bürger, Einschränkungen wieder einzuhalten, müsse neu entflammt werden – unter anderem durch klare, transparente Kommunikation, welche Ziele wie erreicht werden sollen.
Mehrere Faktoren für die Langsamkeit des Rückgangs sieht auch Herwig Ostermann, Chef des staatlichen Public-Health-Instituts Gesundheit Österreich. Neben dem „Gegenspieler“ in Form der Mutation sieht er ebenfalls nachlassende Bereitschaft, den Lockdown einzuhalten. „Pandemic fatigue“ nenne das die WHO – auch sie rate dazu, die Öffentlichkeit wieder an Bord zu holen, um das Virus zu bekämpfen. Denn klar sei, so Ostermann, bei Ansteckungszahlen von 1500 pro Tag sei an weitreichende Öffnungsschritte nicht zu denken.
Georg Renner