Der Generaldirektor des Internationalen Zentrums für Migrationspolitik (ICMPD), Michael Spindelegger, hat die europäischen Staaten aufgerufen, sich auf eine deutliche Zunahme der Migration nach dem Ende der Coronakrise vorzubereiten. "Es gibt eine starke Migrationserwartung nach Ende der Restriktionen durch Corona", sagte Spindelegger am Freitag im APA-Interview. Es gebe einen "Rückstau", und der Druck könnte durch wirtschaftliche Schwierigkeiten zunehmen.
Konkret verwies Spindelegger etwa auf Tunesien, wo der Zusammenbruch des Tourismussektors bereits zu einer Migrationsbewegung nach Italien geführt hat. Zudem seien in der Krise die Überweisungen von Migranten an ihre Angehörigen in den Herkunftsländern um 20 Prozent zurückgegangen. Weil die Angehörigen damit weniger Geld zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse hätten, wachse der Migrationsdruck in den Herkunftsländern.
Nicht so viele wie 2015
Die Wiener Expertenorganisation sehe zwar keine Migrationswelle wie in den Jahren 2015 und 2016, durch die aktuell geringen Zahlen werde es aber "sicher" einen Anstieg geben, sagte Spindelegger. Die Coronakrise sei eine "Chance" für die europäischen Staaten, sich in Sachen Migration besser vorzubereiten. Konkret nannte er den Grenzschutz, aber auch Kooperationsvereinbarungen mit Herkunfts- und Transitländern.
Zugleich pochte er darauf, das Element der legalen Migration nicht aus den Augen zu verlieren. "Da gibt es noch viel Luft nach oben", sagte er mit Blick auf die Zurückhaltung vieler europäischer Staaten. Auch wegen der Terrorangst würden hier "alle auf der Bremse stehen". Doch sei es besser, sich die Migranten selbst zu wählen. Unter Verweis auf entsprechende Projekte von Spanien und Marokko plädierte Spindelegger dafür, in Herkunftsländern gezielt nach den Bedürfnissen von Unternehmen in den Zielländern auszubilden.
Spindelegger äußerte sich nach Ende der diesjährigen "Vienna Migration Conference", bei der zahlreiche Experten und Spitzenvertreter europäischer Regierungen, darunter mehrere Minister, über die aktuellen Herausforderungen in diesem Politikfeld diskutierten. Der Ex-Vizekanzler konnte dem coronabedingten Onlineformat auch etwas Positives abgewinnen. Mit durchschnittlich 2.000 Video-Teilnehmern pro Tag sei die Reichweite nämlich wesentlich größer gewesen als in den vergangenen Jahren.
Pakt für Migration
Hauptthemen der viertägigen Konferenz waren die Coronakrise und der von der EU-Kommission vorgeschlagene "Pakt für Migration". Beim Hauptstreitpunkt, der Verteilung von Flüchtlingen, "zeichnet sich kein Kompromiss ab", sagte Spindelegger. "Man kann das nur lösen, wenn man es im größeren Rahmen sieht", nannte er die Themen Rückführung, Grenzschutz und Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern. Spindelegger zeigte sich auch aufgeschlossen gegenüber der Idee von finanziellen Ausgleichszahlungen an Länder, die Asylbewerber aufnehmen. Man müsse diesbezüglich aber "vorsichtig sein". "Sonst sind alle bereit zu zahlen und niemand will aufnehmen."
Vorselektion der Asylwerber
Als potenziellen "Durchbruch" in der Migrationspolitik sieht Spindelegger das Pilotprojekt der EU-Kommission an, in einem von ihr betriebenen Flüchtlingslager "Prescreening-Verfahren" durchzuführen. Innerhalb von fünf Tagen soll festgestellt werden, ob ein Asylbewerber überhaupt Chance auf Asyl hat. Fällt das Urteil negativ aus, soll mit dem Betroffenen gleich eine Rückführungsvereinbarung ausverhandelt werden. Dies könnte zu einer deutlichen Entlastung des Asylsystems führen, verwies Spindelegger darauf, dass europaweit rund die Hälfte aller Asylanträge abgelehnt werde.
Positiv sieht Spindelegger die Entwicklung seiner Organisation, die mit dem heuer erfolgten Beitritt Deutschlands "einen Riesenschritt nach vorne gekommen" sei. Mit seinen 350 Mitarbeitern und 700 freiberuflichen Experten wickle das Zentrum derzeit 70 Projekte in 90 Ländern ab. Mitte der 1990er Jahre als Reaktion auf die Fluchtbewegungen während der Balkankriege gegründet, engagiert sich das Zentrum bei Grenzschutz-Projekten in Transitländern sowie bei wirtschaftlichen Kooperationen zwischen Ziel- und Herkunftsländern.
Auch Hardliner an Bord
Getragen wird die Organisation von 18 europäischen Staaten, darunter Österreich. An Bord sind "Migrationshardliner" wie Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, aber auch Länder mit einem traditionell liberaleren Zugang wie Portugal oder Schweden. Vor zwei Jahren ist auch die Türkei beigetreten.
Spindelegger sagte, dass ein Beitrittsantrag Griechenlands derzeit geprüft werde und auch Dänemark Interesse an einer ICMPD-Mitgliedschaft angemeldet habe. Eine Agentur der EU wolle man aber nicht werden. Die EU-Kommission sei zwar ein guter Partner, man möchte aber "keine Vermischungen". "Wir wollen unabhängig bleiben", betonte der frühere Außenminister.
Stefan Vospernik / AOA