Bei den großen Anschlägen in den Siebziger- und Achtzigerjahren kamen die Terroristen aus dem Ausland. Der jetzige Attentäter wurde in Österreich geboren, wuchs hier auf, kickte in einem Fußballklub. Was lief schief?
KENAN GÜNGÖR: Wir haben es mit dem Phänomen einer Turboradikalisierung zu tun. Das sind oft Menschen, die zuvor nicht religiös waren, aber in der Schule nicht reüssiert haben und keine Zukunftsperspektive besitzen. Ihnen droht ein Leben in Unbedeutsamkeit und Fadesse. Sie wollen was erleben und suchen das Heldenhafte. Hier setzt der IS an, der einen sektenhaften Rahmen bietet und die jungen Männer mit der Botschaft in den Bann zieht: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, du bist Teil einer berufenen Gruppe, einer besonderen Mission. Mit dieser inneren Sprache ziehen sie die Jugendlichen auf ihre Seite. Wenn sie einmal dabei sind, findet ein selbstverstärkender, isolierter Prozess der Radikalisierung statt.
Es geht um ein Gemeinschaftsgefühl, das die Familie und die Gesellschaft nicht liefert?
Viele wachsen behütet auf, andere leiden, weil sich die Eltern scheiden ließen. Die Vereinzelung spielt eine Rolle. Wenn einem dann jemand auf die Schulter klopft und sagt: Wir sind deine Brüder und Schwestern, wir halten zusammen, löst es was aus. Die jungen Menschen wachsen in einer Welt auf, die nur schwarz und weiß ist. Ihnen wird gesagt, wenn du für den wahren Islam kämpfst, musst du damit rechnen, dass deine Familie, die ganze Welt gegen dich ist. Die schmerzhafte Konfrontation mit der Familie wird als Bewährung angesehen.
Die Vereinzelung gibt es auch bei Leuten ohne Migrationshintergrund.
Es gibt auch junge Österreicher, die konvertieren und in den Jihad ziehen. Die Vereinzelung ist nicht der große Treiber. Im Übrigen kommen die meisten Jihadisten aus der islamistisch-arabischen Welt.
Dass Erdogan die Lebensretter angerufen und ihnen gesagt hat, er wisse, wie schwierig es sei, in Österreich als Moslem zu leben, ist eine verstörende Instrumentalisierung der Ereignisse.
Das ist ein gutes Beispiel, wie jemand eine Situation für sich propagandistisch ausnützt. In der Türkei gibt es das Narrativ, dass der Westen an allem schuld ist, was in der islamischen Welt schiefläuft. Erdogan agiert als Scharfmacher und versteht sich als Symbolfigur gegen den Westen.
Ist der Anschlag nicht ein Beleg dafür, dass die Integration gescheitert ist?
Ich halte nichts von einem solchen apokalyptischen Befund. Wir leben in einer weitgehend friedfertigen Gesellschaft. Das Zusammenleben ist zumeist nicht von Konflikten, sondern von Polarisierungen geprägt. Man muss die Kirche im Dorf lassen. Die Absicht von Terroristen ist es, die Gesellschaft in den Grundfesten zu erschüttern. Das ist dem Attentäter gelungen.
Sie sehen keinen Konnex zwischen Terror und Integration?
Wir müssen unterscheiden. Wenn jemand zu den Gefährdern zählt, stoßen Deradikalisierungsprogramme an ihre Grenzen. Die Leute kann man auch nicht ein Leben lang observieren. Viele sind psychisch labil und eine tickende Zeitbombe. An einem Tag sind sie friedfertig, am nächsten wollen sie die ganze Welt in die Luft sprengen. Ich meine, Gefährder sollte man in Sicherungshaft nehmen. Das ist sicherlich eine Gratwanderung mit dem Rechtsstaat, den Grundrechten, der Schutz der Gesellschaft, das Gemeinwohl ist mir wichtiger.
Welche Rolle spielen Hinterhofmoscheen?
Die islamischen Communitys sollen sich nicht nur distanzieren, sondern sich auch selbstkritisch fragen, warum Leute unter Berufung auf den Islam Feindbilder bedienen, die Welt in Gut und Böse einteilen, auf schwarze Pädagogik setzen und sich immer nur in der Opferrolle gefallen. Gut formulierte Distanzierungen sind eindeutig zu wenig.