Vor drei Wochen wurden im Kanzleramt Überlegungen angestellt, wie sich der Anstieg der Neuinfektionen am besten einbremsen ließe. Dabei wurde die Idee eines kurzen, harten Lockdowns ins Spiel gebracht in der Hoffnung, dass dadurch die Zahlen auf nahezu null gedrückt werden und Österreich unbeschadet durch den Winter kommt - ohne dramatische Einschnitte im Alltag, für die Wirtschaft, in Spitälern, beim Wintertourismus.
Das gespenstische Szenario wurde schnell wieder verworfen. „Wäre Österreich eine Insel, hätte man das ernsthaft prüfen können“, erklärt einer der Involvierten. Andererseits wäre so ein Schritt rechtlich gar nicht gedeckt gewesen, das neue Covid-Gesetz schiebt präventiven Ausgangsbeschränkungen einen Riegel vor. Ein radikaler Lockdown darf nur verhängt werden, wenn das Gesundheitssystem, so steht es ausdrücklich in der Novelle, vor dem Kollaps steht.
Geänderte Diktion
Heute ist die Welt eine völlig andere als vor drei Wochen. In den letzten Tagen hat das Virus in Europa so rasant an Fahrt aufgenommen, dass halb Europa, darunter unsere Nachbarn Italien, Slowenien, Tschechien, die Slowakei, aber auch Griechenland, Frankreich, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg Ausgangssperren oder sogar Teil-Lockdowns verhängt haben. Auffällig ist, dass Österreichs Regierungspolitiker in der Zwischenzeit ihre Diktion geändert haben. Auf die Frage, ob ein Lockdown auszuschließen ist, heißt es seit Anfang Oktober unisono: „Wir werden alles tun, um einen solchen zu verhindern.“ Ein Nein zu Ausgangsbeschränkungen - und das ist im Kern ein Lockdown - klingt anders.
Der explosionsartige Anstieg der Neuinfektionen auf mehr als 3000 kommt nicht aus heiterem Himmel. Schon am Freitag hieß es in mehreren Bundesländern, dass die regionalen und lokalen Gesundheitsbehörden „überrollt“ werden. Im ländlichen Raum breitet sich das Virus ungebremst aus, auch in Alten- und Pflegeheimen bekommt man Corona nicht in den Griff. Kurioses Detail: Laut Ages ist bisher kein einziger Cluster am Donaukanal, der ja als Inbegriff jugendlicher Verantwortungslosigkeit gilt, registriert worden.
Sorge für die Zeit bis Ostern
Kanzler Sebastian Kurz, Vizekanzler Werner Kogler, Gesundheitsminister Rudolf Anschober, Innenminister Karl Nehammer blicken äußerst besorgt den Monaten bis Ostern, wenn die Kälte unser Land beherrscht, entgegen. Ob nicht auch Österreich im Dezember, Jänner in einen Lockdown hineinschlittertet, darüber will man in Regierungskreise nicht spekulieren. Haarig könnte es werden, sollten die tägliche Neuinfektionen auf täglich 6000 und mehr Fälle über Wochen ansteigen, vernimmt man in Regierungskreisen. Nur jeder zehnte positiv Getestete muss derzeit ins Spital, und nur zwei Prozent auf die Intensivstationen.
Dass die Regierung ein Sammelsurium an Maßnahmen, wie der Gesundheitsminister kürzlich eingeräumt hatte, „in der Schublade“ habe, sollte nicht überraschen. Eine vernünftige Politik sollte nicht nur auf Umfragen, auf die schnelle Schlagzeile am nächsten Tag schielen, sondern Vorkehrungen für den Tag X treffen. Was so alles in der Schublade liegt? „Das ist keine Raketenwissenschaft“, erklärt ein Regierungsmitglied, „man muss sich nur anschauen, welche Maßnahmen seit Ausbruch der Pandemie und in den letzten Tagen in Europa ergriffen worden sind.“ Dazu zählen eine Maskenpflicht im Freien, Einschränkungen bis hin zu Schließungen von Lokalen, Theatern, Sportstätten, Schulen, Kindergärten, Kontaktbeschränkungen in den eigenen vier Wänden, Einschränkungen bei Festen (in Belgien dürfen Kinder zu Halloween nicht von Haus zu Haus gehen) bis hin zu Grenzschließungen und Ausgangssperren.
Dreistufiger Lockdown?
Eine Option wäre ein dreistufiger Lockdown nach französischem Modell. Der erste Schritt wären simple Ausgangssperren, die etwa mit Ende der Sperrstunde um 23 Uhr in Kraft treten. In Paris, Mailand, Brüssel oder Saloniki dürfen die Leute in der Nacht nicht mehr auf die Straße. Damit soll sichergestellt werden, dass die Menschen den Abend zu Hause verbringen und nicht bei Freunden, Verwandten, Bekannten, bei Events, in Lokalen den Tag ausklingen lassen. In einem zweiten Schritt würden Veranstaltungen weiter eingeschränkt werden, Unternehmen müssten auf Homeoffice umstellen, die Oberstufe würde nur noch das Schulgebäude betreten, um Schularbeiten oder Test zu absolvieren. Anders als im Frühjahr sollen Schulen, Altersheime oder auch Geschäfte so lange wie möglich offen bleiben. Die dritte Stufe wäre der komplette Shutdown.
Das nach der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH) neu ausformulierte Covid-Gesetz sieht alle diese Möglichkeiten ausdrücklich vor, allerdings mit zwei Einschränkungen: Selbst eine Ausgangssperre ab 23 Uhr könnte vom Gesundheitsminister nicht mehr per Verordnung verfügt werden, zuvor müsste der Hauptausschuss des Nationalrats zusammentreten. Laut Gesetz ist ein Lockdown derzeit auf zehn Tage beschränkt. In einem Punkt hat FPÖ-Chef Norbert Hofer recht: „Sollte es jemals zu drastischen Maßnahmen kommen, wird die Regierung nie von einem Lockdown sprechen, sondern immer von einem Maßnahmenpaket gegen einen solchen..“