In politische Turbulenzen begann der republikanische Staat schon wenige Jahre nach seiner Gründung zu schlittern. Die zunehmende Polarisierung und Verfeindung der politischen Lager in der Ersten Republik mündete in der Ausschaltung des Parlaments 1933, in der Errichtung eines autoritären Regimes durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und im Jahr darauf in Bürgerkrieg. Trotz der Verfassung, die 86 Jahre danach wegen ihrer Eleganz bei der Lösung einer tief greifenden Regierungskrise vom Bundespräsidenten abwärts gelobt wird. Doch nicht die heute vor 100 Jahren vom konstituierenden Nationalrat beschlossene Bundesverfassung ist die hochgepriesene, sondern die 1929 novellierte, die den Bundespräsidenten mit außerordentlichen Vollmachten ausstattete. Damals, 1933, wollte man die Möglichkeiten der Verfassung nicht nutzen.
Die ursprüngliche Betriebsanleitung des jungen Staates hob besonders das Parlament hervor. Der Nationalrat wählte den Bundeskanzler und die Regierung, konnte sie auch abberufen. Die Bundesversammlung bestellte den Bundespräsidenten, dem vor allem die Aufgabe eines Grüßaugusts zugewiesen worden war. Die Sozialdemokraten hatten zuerst überhaupt die Schaffung des Amtes eines Bundespräsidenten abgelehnt, sie wollten keinen Ersatzkaiser.
Also sind vom ersten Bundespräsidenten Michael Hainisch Anekdoten überliefert, in denen er seine Machtlosigkeit beklagte. Als ihm ein Passant das heruntergefallene Taschentuch reichte, sagte Hainisch, das Taschentuch sei schließlich die einzige Sache, in die er seine Nase hineinstecken dürfe. Auf die Einladung des Wiener Erzbischofs zur Fronleichnamsprozession soll das Staatsoberhaupt geantwortet haben, es könne nur auf Aufforderung der Regierung etwas tun.
Die Erste Republik verschliss zwischen 1920 und 1929 zwölf Regierungen. Vor allem die erstarkten Heimwehren nährten die Sehnsucht nach einem starken Mann im Staat und drängten auf eine Änderung der Verfassung, mit einer Einschränkung der Befugnisse des Parlaments und dafür mehr Macht für den Bundespräsidenten. Die Novellierung richtete sich nicht zuletzt gegen die oppositionellen Sozialdemokraten, die bei der Nationalratswahl 1927 von 165 Sitzen immerhin 71 errungen hatten, während die antimarxistische Einheitsliste mit den Christlichsozialen, der Großdeutschen Volkspartei und anderen dem Bündnis beigetretenen Kleinparteien auf 82 Mandate gekommen war.
Die Sozialdemokraten ließen sich ihre Zustimmung zu der Verfassungsreform durch Zugeständnisse abringen. So setzten sie durch, dass der Bundespräsident in der Ausübung eines guten Teils seiner neuen Machtfülle an die Vorschläge der Regierung gebunden ist.
Schon allein, dass die Bundesverfassungsnovelle 1929 die Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk festlegt, hebt dieses Amt hervor. Bei Bildung der Regierung, der Beauftragung mit der Kanzlerschaft, bekommt er formal völlig freie Hand. Bei der Bestellung der Minister kommt ihm ein gewichtiges Mitspracherecht zu. Der Mitarchitekt der Verfassung von 1920, Hans Kelsen, war in die Novellierung nicht eingebunden und kritisierte die Machtverschiebung weg vom Parlament.
Nach dem Fall der Naziherrschaft und der Wiedererrichtung Österreichs übernahm man die Verfassung 1920 in der Fassung von 1929, die nun ihre Bewährungsprobe bestand. Bei der Regierungskrise 2019, nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos, funktionierte die Bundesverfassung, Bundespräsident Alexander Van der Bellen vermied mit den ihm zugewiesenen Befugnissen eine Staatskrise. Und mit ihm entdeckte Österreich die Schönheit und Eleganz einer Verfassung, die aus einer Zeit stammt, in der sich Österreich von einem starken Parlament abwandte.