Alois Schöpf: Die Autonomie des Einzelnen
Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu töten. Aber auch niemand soll gezwungen werden, ein übergroßes Leiden weiter zu ertragen. Man darf hoffen, dass unser Verfassungsgericht jenem der Deutschen folgt.
Alle Menschen sterben. Vier Prozent fallen um und sind tot, sodass die Hinterbliebenen sagen: Es ist zwar schrecklich, aber für ihn war es ein guter Tod! Denn viele müssen leiden. Viele erdulden dieses Leiden, weil sie noch jede Minute des Lebens auskosten wollen. Oder weil eine Religion oder eine Weltanschauung es ihnen verbietet, selbst das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und weiteres Leid durch den Freitod zu beenden.
Inwieweit durch einen solchen Freitod die göttliche, moralische oder gesellschaftliche Ordnung in Gefahr gebracht wird, und inwieweit ein Mensch klug oder feige handelt, wenn er sich einem Leiden entzieht, das er nicht mehr ertragen möchte, ist schon seit Jahrhunderten Gegenstand kontroverser Debatten. Stets steht im Zentrum die Frage, wer über das Leben bestimmt. Ein Gott, der es angeblich stiftet und dessen Verwalter der Mensch nur ist. Oder derjenige, der es lebt und zuweilen leben muss, weshalb er es auch beenden können sollte.
Für all jene, für die die Autonomie des Einzelnen und die Verfügungsgewalt über sich selbst eines der höchsten Güter und Menschenrechte ist, ist es geradezu betrüblich, das Essay „Über den Freitod“ des vor 309 Jahren geborenen Philosophen David Hume zu lesen und feststellen zu müssen, dass sich an den Argumenten nichts geändert hat. Und ebenso ist es betrüblich, feststellen zu müssen, dass unsere politischen Eliten die panische Angst zu haben scheinen, durch eine klare Stellungnahme zur Frage des Freitodes und der Beihilfe zum Suizid in ihren Anbiederungsversuchen gegenüber Wählergruppen beeinträchtigt zu werden, weshalb sie eine Entscheidung den Gerichten überlassen.
Alle Befürworter einer Liberalisierung der Sterbehilfegesetze können nur hoffen, dass der ausführlich argumentierte Entscheid des Deutschen Bundesverfassungsgerichtshofes vom Februar dieses Jahres auch unsere österreichischen Richter, welche die Arbeit unserer feigen Politiker zu erledigen haben, zu einem eindeutigen und liberalen Richterspruch bewegt.
Ein Richterspruch, der es freien Bürgern ermöglicht, frei über Art und Zeitpunkt ihres Lebensendes zu entscheiden, wie es der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bereits im Jahre 2011 als unveräußerliches Menschenrecht definiert hat.
Niemand soll und darf gezwungen werden, sich selbst zu töten, wenn er es nicht will oder aus ethischen Gründen ablehnt. Aber auch niemand soll gezwungen werden, ein übergroßes Leiden weiter zu ertragen, nur um damit der totalitären Ideologie anderer zu dienen.
Susanne Kummer: Töten darf keine Option sein
Töten ist keine Therapieoption. Steht diese Möglichkeit erst einmal offen, wächst der Druck auf Kranke, ihrer Umgebung das alles zu ersparen. Der Staat hat die Aufgabe, Menschen auch in so verletzlichen Situationen zu schützen.
Der Staat soll sich nicht in das Sterben einmischen, jeder soll darüber selbst bestimmen dürfen. So lautet das Hauptargument der Befürworter der Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen. Sie haben recht: Selbstbestimmung ist Ausdruck der Würde des Menschen, Autonomie ein hohes Gut. Keiner will sich von anderen vorschreiben lassen, wie er zu leben hat. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Die andere Hälfte ist weniger schön. Menschen, die sich mit Tötungsgedanken befassen, leben nicht auf einer seligen Insel der Autonomie. Im Gegenteil: Wer schwer krank, einsam oder gebrechlich ist, befindet sich in einer höchst verletzlichen Phase seines Lebens. Verlusterfahrungen, die Angst oder auch die Tatsache, anderen zur Last zu fallen, kann Betroffene in eine Sackgasse tiefer Isolation und Hoffnungslosigkeit treiben.
Wenn in solchen Phasen die Tötungsoption als Lösung im Raum steht, wächst der Druck, dass sie das alles ihrer Umgebung jederzeit ersparen könnten. Entsolidarisierung geht schneller, als man denkt. In Kanada gibt es bereits Berechnungen, wie viel Geld sich dank „Euthanasie“, wie sie dort unverblümt genannt wird, eingespart werden kann.
Zahlen aus der Schweiz und den USA belegen einen beunruhigenden Anstieg von Selbsttötungen, wo der Staat die Hand zum Suizid reicht. Ein Warnsignal. In den Beneluxstaaten geben Ärzte zu, ihre Patienten getötet zu haben – auch ohne deren Wunsch. Hier sind Machtstrukturen wirksam, die es klar zu benennen gilt.
Ein Mensch in existenzieller Not braucht ein heilsames Gegenüber, das lebensbejahende Aus-Wege aus der Krise aufzeigt – statt sich mit seinen Selbsttötungsgedanken zu solidarisieren.
Bei hochbetagten, multimorbiden Menschen können Sätze fallen: „Ich will nicht mehr.“ Oder „Lasst mich lieber sterben.“ Das kann man gut nachfühlen. Doch wir müssen unterscheiden: Sterben zu wollen ist nicht dasselbe wie: „Töte mich!“ Töten ist keine Therapieoption. Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert wird. Aber es gibt kein Recht auf Tötung. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung kann weder ein Recht noch die Pflicht des Arztes oder anderer Personen zur Mithilfe oder die Tötung seiner Patienten auf Wunsch abgeleitet werden. Aufgabe des Staates ist es nicht, Tötungswünsche zu regeln, sondern Menschen auch in verletzlichen Lebensphasen zu schützen. Vielleicht sollten wir dem Wort Sterbehilfe seinen ursprünglichen Sinn wiedergeben. „Hilfe beim Sterben“ braucht jeder Mensch: durch Schmerzkontrolle, Begleitung, Handhalten und Trost.