72.000 Jugendliche dürfen am 11. Oktober bei der Wien-Wahl keine Stimme abgeben. Und das, obwohl sie vielfach hier geboren und aufgewachsen sind, Tendenz steigend. Jugendarbeiter und Politikwissenschafter schlagen Alarm und warnen vor langfristigen Schäden für die Demokratie. Die wahlwerbenden Parteien sind sich in ihren Lösungsansätzen unterdessen uneinig.
Ausgeschlossen in der Heimatstadt
Der 18-jährige Bilawal ist mit zwei Jahren von Pakistan nach Österreich gekommen. In der Donaustadt ist er Schülersprecher des Informatikzweiges und vertritt als solcher 400 Mitschülerinnen und Mitschüler. Seine eigene Vertretung in der Stadt darf er aber nicht wählen: „Du kannst soviel machen und lernen wie du möchtest, deine Meinung hat keinen Sinn, wenn du nicht wählen darfst.“ Ähnlich geht es Ibo und Ufuk. Auch sie sind in Wien aufgewachsen, es ist ihre Heimatstadt, in der man aber über sie hinweg bestimme. Auch der 22-Jährige Santos zahlt in seinem zweiten Lehrjahr bei einer Bäckerei zwar Steuern, darf aber nicht mitbestimmen, was mit ihnen passieren soll.
Mehr Menschen ohne Wahlrecht als je zuvor
Bilawal, Ibo, Ufuk und Santos würden gerne wählen, dürfen aber nicht, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Sie sind ein kleiner Bruchteil der rund 72.000 Wiener Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren, die von der Wien Wahl am 11. Oktober ausgeschlossen sind. Insgesamt sind mit 30,2 Prozent fast ein Drittel der Wienerinnen und Wiener ab 16 Jahren nicht wahlberechtigt, so viele wie noch nie zuvor. In ganzen Zahlen sind das eine halbe Million Menschen, also in etwa die Einwohnerzahl von Salzburg, Linz und St. Pölten zusammen. 80 Prozent leben schon länger als fünf Jahre hier, 53 Prozent länger als zehn Jahre. Der weitere Trend ist eindeutig: Seit 2002 hat sich die Zahl jener, die in Wien keine Stimme abgeben dürfen, verdoppelt. 2015 waren bereits 24 Prozent der Wienerinnen und Winer nicht wahlberechtigt. Besonders ausgeprägt ist die Schieflage im 15., 16. und 20. Bezirk.
Die Problematik ist nicht neu. Große Teile der Wiener Bevölkerung werden politisch ungleich repräsentiert und es fehle an wichtigen Inputs, sagt Politikwissenschafter Jeremias Stadlmair von den Universitäten Wien und Innsbruck. Aktionen wie die „Pass Egal Wahl“ und jetzt auch die Kampagne #wien30 der Wiener Jugendzentren sollen darauf aufmerksam machen.
Drohende Demokratieverdrossenheit und Kulturverlust
Vor allem bei Jugendlichen warnen Jugendarbeiterinnen und Politikwissenschafter jetzt aber vor langfristigen, demokratiepolitischen Folgen. Zum einen müssen demokratische Prozesse in den Jugendjahren erlernt werden, zum anderen würde durch den Ausschluss von Wahlen die Demokratieverdrossenheit der jungen Erwachsenen gefördert. Ein Kulturverlust der über Generationen einzementiert würde, sagt Ilkim Erdost, Leiterin des Vereins der Wiener Jugendzentren: „Die Ablehnung prägt diese Jugendlichen. Wenn sie sich nicht als stimmberechtigter Teil der Gesellschaft fühlen, fördert das die Desintegration.“
Parteien sind sich über Reformen uneinig
Es brauche rasche Reformen, entweder des Wahlrechts oder des Einbürgerungsprozesses. Sonst laufe man Gefahr, dass in zehn Jahren 40 Prozent der Wiener Bevölkerung kein Wahlrecht haben, sind sich Ilkim Erdost und Jermias Stadlmair einig. Man lobbyiere bei Entscheidungsträgern, bisher aber ohne Erfolg.
Die Grünen möchten ein Wahlrecht für alle Menschen, die fünf Jahre oder länger in Wien wohnen, unabhängig von ihrem Pass. Die Neos wollen, dass das Wahlrecht für EU-Bürgerinnen und -Bürger von Bezirks- auf Landesebene ausgeweitet wird. Geht es nach der ÖVP sollen in Wien zunächst Menschen mit Nebenwohnsitz wählen dürfen, nicht aber Menschen ohne Staatsbürgerschaft. Das Wahlrecht muss an die Staatsbürgerschaft gekoppelt bleiben und dürfe nicht leichtfertig verteilt werden. Auch die SPÖ will das Wahlrecht nicht von der Staatsbürgerschaft entkoppeln. Ein moderneres, weniger restriktives StaatsbürgerInnenrecht soll aber zur Einbürgerung ermutigen. So sollen etwa in einem ersten Schritt die Wiener Landesgebühren für die Einbürgerung (rund 800-1.100 Euro) gesenkt werden. Die FPÖ und das Team HC Strache waren für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
Eine baldige Einigung scheint nicht in Sicht, das Thema polarisiert. Verständlicherweise, schließlich sind eine halbe Million Stimmen unüberhörbar. 30 Prozent mehr Wahlberechtigte würden zukünftige Wahlergebnisse ordentlich aufmischen.
Ambra Schuster