In unserer Zeit der Verwilderung des Denkens – auch über den Islam (der französische Philosoph Alain Finkielkraut nennt diese Erscheinung „Die Niederlage des Denkens“) – bedeutet es, ein vermintes Gelände zu betreten, wenn man sich zum Islam äußert. Im Zeitgeist herrscht eine Kombination aus irrationalem, postfaktischem Denken („beyond the truth“) und der Ächtung von rationalem Denken als Äußerung „unbequemer Gedanken“ (Adorno), aus Verfemung von aufklärerischer Religionskritik als Islamophobie und einer Ideologie der Moralisierung statt einer Verantwortungsethik sowie nicht zuletzt der Erzwingung von Selbstzensur als Übung in Political Correctness.
Bevor ich in medias res gehe, bekenne ich mich als Gegner dieses Zeitgeistes und bezichtige ihn des Totalitarismus. Ich bekenne mich zu Max Webers Methode der möglichen Erforschung von Fakten als sozialwissenschaftlicher Objektivität. Die Fakten, die ich heranziehe, betreffen sowohl Geschichte als auch Gegenwart.
Eine Begriffsklärung
Wesentlich erscheint mir in diesem Zusammenhang zudem die Frage nach der islamischen Weltanschauung. Geschichtlich und weltanschaulich spalten die Muslime die Welt in „dar al-Islam/Haus des Islam“ und in den nichtislamischen Rest, zu dem Europa gehört. Für diesen Rest als „dar/Haus“ gibt es geschichtlich eine Reihe von Begriffen wie „harb“ oder „kuffar“, was „Krieg“ beziehungsweise „Ungläubige“ bedeutet.
Das islamische Friedensprojekt verfolgt das Ziel, die Welt zu islamisieren (das ist keine islamophobe Unterstellung, sondern schlicht islamischer Glaube). Dahinter steht die Gleichsetzung von „dar al-Islam/Haus des Islam“ mit „dar al-Salam/Haus des Friedens“ gemäß der Weltanschauung, der Weltfriede sei nur unter islamischer Dominanz möglich. In den vergangenen vierzehn Jahrhunderten ist diese Weltanschauung nie neu durchdacht worden. Muslime, die in Europa leben, sind als erste herausgefordert, diese Weltanschauung im Rahmen der Akzeptanz von Pluralismus zu reformieren.
Jihad in der Geschichte und heute
In der bisherigen Geschichte kamen Muslime zweimal als Jihad-Krieger nach Europa, heute kommen sie friedlich im Rahmen von „hidjra/Migration“. Im Jahre 711 kamen sie als Eroberer nach Spanien und wieder, 1453, nach Konstantinopel (heute Istanbul) und anschließend auf den Balkan. Anders als damals erfolgt Eroberung heute ohne Gewalt unter Berufung auf Minderheitsrechte und „Identity Politics“ in übergeordneter Vereinnahmung von Demokratie und Völkerrecht, beide sind europäisch, nicht islamisch, aber instrumentalisierbar.
Diese Feststellung lässt sich mit einem Bericht der „New York Times“ vom 21. Mai 2019 über den Islam in Großbritannien verdeutlichen, zu dessen Verständnis folgende Informationen erforderlich sind: Im Jahr 622 migrierte der Prophet von Mekka nach Medina zur Verbreitung des Islam. Diese Migration heißt „hidjra“, und der Koran führt sie als Pflicht zur Verbreitung des Islam. Dies tun heute sowohl schriftgläubige Muslime als auch Islamisten in Europa als „Muhajiroun/Migranten“.
Wachsende muslimische Bevölkerung in Europa
Diesen Namen trägt nach dem einen Bericht der „New York Times“ eine militante Bewegung in Großbritannien, die einheimische, militante Gruppierung der al-Muhajiroun. Deren Ziel ist, so die NYT, die Demokratie im Land zu zerstören und ein Kalifat nach dem Gesetz der Scharia zu etablieren.
Laut einer Analyse des Pew Research Center in Washington wird – bedingt durch Migration und Willkommenskultur – der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Deutschland „von 6,1 Prozent im Jahr 2016 auf 20 Prozent im Jahr 2050 steigen“. Der Trend ist nicht nur anhaltend, sondern auch zunehmend. In anderen Teilen Europas ohne Willkommenskultur ist der Prozentsatz geringer, dennoch signifikant.
Schweden übertrifft in dieser Prognose Deutschland und wird 2050 geschätzte 31 Prozent Muslime in seiner Wohnbevölkerung haben. Allein der Verweis auf diese Statistiken bringt es heute mit sich, in links-grünen Kreisen des „Populismus“ bezichtigt zu werden. Die Tatsache, dass es diesbezüglich rechtspopulistische Grenzverletzer gibt, führt heute oft dazu, dass die Grenzen des Sagbaren immer enger gezogen werden.
"Nun bin ich selbst Muslim und Migrant"
Nun bin ich selbst Muslim und auch Migrant. Ich sehe das Problem nicht im Islam schlechthin und nicht in den demografischen Statistiken. Vielmehr betrifft das Problem zum einen die Aufnahmegesellschaft, nämlich in der Frage, welchen Rahmen sie für die Integration zugewanderter Muslime – wohl zu Europäern – bietet. Zum anderen betrifft es die Muslime in der Frage nach ihrer Bereitschaft und ihrem Willen, sich als Europäer im Sinne von Citoyens zu integrieren.
Der Begriff für europäische Aufnahmegesellschaften lautet Leitkultur, und der Begriff für die Muslime, die in Europa leben, heißt Euro-Islam. Nach meiner Meinung kann es ein friedliches Europa mit der ursprünglichen Bevölkerung und den zugewanderten Muslimen als Citoyens ohne einen Wertekonsens als Leitkultur und ohne eine Europäisierung des Islam nicht geben.
Was versteht man unter Leitkultur?
Was nun ist eine Leitkultur? Und was bedeutet Euro-Islam? Und schließlich: Warum kann es ohne beide nicht friedlich – wie Multikulturalisten es sich erträumen – in die Zukunft gehen?
Im Gegensatz zum Unsinn und zur Missdeutung dieses Konzeptes bedeutet Leitkultur nichts anderes als eine Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem wertorientierten Gemeinwesen. Die vorgeschlagenen Werte entstammen der universalistischen Aufklärung und ermöglichen als Wertekonsens ein gemeinsames Verständnis des Primats der Vernunft vor jeder religiösen Offenbarung zur Begründung von Akzeptanz für eine „open society“, für Säkularität und republikanischen Geist. Dies hat mit „Hegemonialkultur“ nicht das Geringste zu tun.
Die Vision eines europäischen Islam
Der Euro-Islam ist eine Vision eines europäischen Islam, wie ich ihn nach dem Vorbild einer Afrikanisierung des Islam und der Anpassung des Islam an südostasiatische Kulturen denke. Ich habe beide in den vergangenen vierzig Jahren in Senegal und in Indonesien beobachtet und als Modell für Europa studiert. Einen universellen, lokalkulturfreien, also einheitlichen Islam gibt es nur als Weltanschauung, nicht aber in der Realität.
Deshalb ist es politische Ideologie, von „dem Islam“ zu sprechen. Es ist bedauerlich, dass europäische Politiker wie Angela Merkel unwissend in diese Falle geraten. Der Islam hat viele kulturell, konfessionell und auch sozial unterschiedliche Gesichter. Eines davon ist das ideologisch-totalitäre Gesicht eines „politischen Islam“. Dieser stellt eine zeitgeschichtliche Erscheinung dar, die zur Politik, nicht aber zum rechtlich zu schützenden religiösen Glauben gehört. Der Euro-Islam richtet sich gegen diesen politischen Islam, den abzulehnen keine Islamophobie ist.
Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Carsten Linnemann machte mit seinem Buch unter dem Titel „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland“ auf das Problem aufmerksam und löste eine Debatte aus, die bis heute andauert. Europa kann Muslime integrieren und gleichzeitig seine zivilisatorische Identität bewahren, wenn es eine Kombination aus Euro-Islam und Leitkultur zu einem politischen Konzept macht.
(Dieser Text wurde zuerst in der NZZ veröffentlicht.)
Bassam Tibi