Es klingt wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film, könnte in Österreich aber bald Realität werden. Während die Bürger einer Kleinstadt energiegeladen ihren täglichen Verrichtungen nachgehen und voller Tatendrang ihren Hobbys frönen, tritt der Bürgermeister mit ernster Miene vor die Öffentlichkeit, um aus heiterem Himmel den Lockdown über die Stadt inklusive Ausgangssperre zu verhängen – im Wissen, dass in seiner Gemeinde in 48 oder 72 Stunden Corona in größerem Maßstab ausbricht.
Innsbruck und Wien als Trendsetter
Dass das keine billige Hollywood-Utopie, keine von Orwell geprägte Dystopie ist, dafür zeichnen zahlreiche Wissenschaftler der Innsbrucker Uni sowie der Wiener TU verantwortlich, die mit Unterstützung der öffentlichen Hand (Wissenschafts- und Landwirtschaftsministerium und einiger Bundesländer, etwa Tirol und Kärnten) gerade damit befasst sind, in mehr als 20 österreichischen Städten groß angelegte Corona-Testprogramme auszurollen – und zwar in der jeweiligen Kanalisation und in Kläranlagen. In Innsbruck und in Wien sind die Programme bereits im Frühjahr angelaufen, in Klagenfurt und Villach wurden etwa gestern die Proben-Entnahmekits installiert. In den nächsten Tagen soll eine eigene Homepage „Coron-A“ online gehen.
Virus poppt bereits in Inkubationszeit auf
Ausgangspunkt des Projekts ist die von niederländischen, amerikanischen und eben Innsbrucker und Wiener Wissenschaftlern gemachte Entdeckung, dass selbst bei sehr milden Krankheitsverläufen das Virus über den Stuhl ausgeschieden wird und in Kläranlagen nachgewiesen werden kann. Das Entscheidende dabei: Sogar bei ganz milden Verläufen wird das Virus bereits während der Inkubationszeit ausgeschieden – also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Infizierte noch keine Symptome aufweist und somit auch keine Vorsichtsmaßnahmen ergreift. Der Wissenschaftler, die Gesundheitsbehörde, der verantwortliche Politiker ist früher über einen etwaigen clusterartigen Ausbruch der Krankheit in einer Stadt, einem Viertel informiert als die Infizierten selbst. Durch die Analyse der Abwasserproben können Rückschlüsse auf die Verbreitung der Infektion in der Bevölkerung getroffen werden.
Ein Infizierter bei 10.000 Personen nachweisbar
Der Innsbrucker Mikrobiologe Heribert Insam berichtet im Gespräch mit der Kleinen Zeitung, die Messmethoden seien in der Zwischenzeit so ausgefeilt, dass sich in Abwässern von 10.000 Personen auch dann Corona-Bruchstücke nachweisen lassen, wenn sich nur eine einzige Person mit dem Virus infiziert hat. „Wir haben es hier nicht mit lebenden Viren, sondern mit Partikeln zu tun“, beruhigt Insam angesichts so mancher Befürchtung, von dem Projekt könnte eine Corona-Gefahr ausgehen.
Virus über Kanalisation bis ins Grätzel verfolgbar
Norbert Kreuzinger vom Institut für Wassergüte an der TU ist, wenn man seinen Schilderungen lauscht, als Wissenschaftler in der Wiener Kanalisation zumindest wissenschaftlich zu Hause. Da die Betreiber der Kläranlagen routinemäßig mehrfach dem Abwasser Tagesmischproben entnehmen – und zwar nicht nur in der Hauptkläranlage, sondern entlang zahlreicher Stränge –, ließe sich im Ernstfall das Virus bis in ein Grätzel zurückverfolgen, die Proben werden nämlich nicht gleich weggeschüttet und können somit auch später analysiert werden.
Kanalnetz-Modelierer bestimmen Parameter
Aufwendiger als die Probenentnahme sei die Probenaufbereitung: „Wir brauchen etwa einen halben Liter, dieser muss dann ein paar Stunden lang zentrifugiert werden.“ Kopfzerbrechen bereiten Kreuzinger derzeit noch die Probenkapazitäten. „Wir schaffen nur eine überschaubare Menge, wir wollen das allerdings ausrollen.“ Am schwierigsten ist der Versuch, aus dem Datenmaterial aussagekräftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Insam verweist etwa auf den Einsatz sogenannter Kanalnetzmodelierer, da etwa die Länge des Kanalnetzes, die Wassermatrix oder auch plötzlich auftretende Regengüsse die Erkenntnisse verändern.