Herr Minister Anschober, wir haben gerade eine Serie von Öffnungen hinter uns. Nun schließen in Oberösterreich in fünf Bezirken Schulen und Kindergärten und bundesweit liegt die Zahl der Neuinfektionen wieder im dreistelligen Bereich. Haben wir zu früh geöffnet?
Rudolf Anschober: Die Ausbrüche sind bisher nur regional, auf Bundesebene ist die Lage stabil. Wir sind immer von einem schwierigen Sommer mit regionalen Ausbrüchen ausgegangen. Wichtig ist, in solchen Situationen schnell zu reagieren und durch ein professionelles Kontaktpersonenmanagement größere Ausbreitungen zu verhindern. Ich hatte ein mulmiges Gefühl nach der ersten Öffnung - das waren kleine Geschäfte, Baumärkte und Gartencenter. Nach zwei Wochen habe ich ziemlich aufgeatmet, weil sich überhaupt nichts bewegt hat. Und so ist es geblieben – es gab bisher keine wesentliche Ausbreitungen nach den Öffnungsschritten.
Und heute? Wie schätzen Sie angesichts der Neuausbrüche dieses Verantwortungsgefühl der Österreicher ein?
Es erfüllt mich schon mit großer Sorge, weil ich den Eindruck hatte, es gibt krasse Fehleinschätzungen bei einem Teil der Bevölkerung, was die Risikosituation betrifft. Die Pandemie ist nicht vorbei. Das Virus ist nicht weg, das Virus lebt unter uns weiter und das Virus ist weiterhin hochgefährlich. Das müssen wir jetzt kommunizieren und zwar ganz stark.
Sind Sie in ihrer Pädagogik der Eigenverantwortung gescheitert?
Nein, ganz im Gegenteil. Die Situation ist ja nicht statisch. Dass die Leute irgendwann müde sind und sagen, ich will ein normales Leben haben, das ist völlig normal. Ich verstehe wirklich, dass ein Kellner oder eine Kellnerin nicht zehn bis zwölf Stunden in der Hitze mit der Maske herumlaufen will.
Haben wir die Masken zu früh abgelegt?
Die Maske ist für viele ein Symbol geworden, dass wir in einer Ausnahmesituation sind. Wir schauen uns jetzt an, ob sich die Daten bundesweit problematisch entwickeln. Eine Maskenpflicht kann man sehr rasch wieder verankern, wenn es notwendig wäre. Das ist aber nicht das Ziel. Das erklärte Ziel ist, eine zweite Welle zu verhindern, denn die würde uns wirtschaftlich ruinieren. Und ich bin optimistisch, dass wir das schaffen, wenn wir als Regierung schnell auf bundesweite Zunahmen der Infektionen reagieren – wie jetzt im Fall Westbalkan, wenn es gelingt, mit schnellem Kontaktpersonenmanagement die Ausbrüche rasch zu stoppen und wenn alle Teile der Bevölkerung wieder mehr Verantwortung übernehmen.
Können Sie sich auch eine regionale Maskenpflicht vorstellen?
Ja, es hängt ganz davon ab, wo die Zuwächse sind und in welcher Form sie auftreten. Sind sie regional begrenzt, können wir mit Sofortmaßnahmen wie jetzt in Oberösterreich reagieren, aber auch eine regionale Maskenpflicht ist nicht ausgeschlossen. Gehen die Zahlen nach oben, muss man sehr schnell die Notbremse ziehen.
Was heißt Notbremse? Noch ein Lockdown?
Das wollen wir mit aller Kraft vermeiden. Das wäre wirtschaftlich und auch sozial eine Katastrophe. Da müssen wir andere Lösungen finden und an denen arbeiten wir.
Gehört die App dazu? Warum ist die in Österreich keine Erfolgsgeschichte?
Auch die Rotkreuz-App wird eine Rolle spielen. Mir sagt das Rote Kreuz, dass sie seit dem Wochenende technisch nachjustiert ist und funktionieren sollte. Wir werden sie jetzt breit bewerben. Im Herbst werden wir sie brauchen, denn der wird noch einmal eine große Herausforderung. Ich bin nicht das Panik-Orchester und auch kein Angst-Politiker, aber alle Virologen sagen uns, im Herbst müssen wir vorsichtig sein, weil Indoor das Ansteckungsrisiko größer ist.
Öffnen die Schulen normal?
Ich hoffe sehr, dass im Herbst ein völlig normaler Schulbetrieb beginnen wird. Ich glaube, danach sehnen sich viele Eltern und Jugendliche, und die Zahlen sprechen derzeit überhaupt nicht dagegen, auch nicht im schulischen Bereich.
Helmut Marko, der Rennleiter von Red Bull, wirft der Regierung vor, Angst und Panik gesät zu haben, die Sorglosigkeit der Leute sei die Reaktion auf eine politische Überreaktion auf das Virus.
Das glaube ich überhaupt nicht. Wir haben kommuniziert, was in Ländern passiert, die zwei bis drei Wochen vor uns waren. Wenn ich mir jetzt die Situation in Nord- und Südamerika ansehe, dann hätte das schon außerordentliche Dimensionen kriegen können, wenn wir nicht rechtzeitig reagiert hätten. Das ist das Paradoxon der erfolgreichen Prävention: Jetzt sagt jeder, es ist fast nichts passiert. Aber 700 Tote, sind 700 Tote, das muss man auch dazu sagen. Und hätten wir nicht so erfolgreich gehandelt mit einer derartig breiten Unterstützung der Bevölkerung, dann hätten wir die hohen Todeszahlen, die andere Länder derzeit beklagen müssen.
Wie bereiten Sie sich auf den schwierigen Herbst vor?
Wir arbeiten an der Verbesserung des Kontaktpersonen-Managements, das schneller werden muss. Wir wollen die App stark bewerben und das Verantwortungsgefühl der Bevölkerung wieder starten. Und heute wollen wir ein großes, neues Testprogramm für ganz Österreich präsentieren, vor allem für Risikogruppen, Menschen in prekären Arbeitssituationen.
Post und Fleisch? Oder wo vermuten Sie in Österreich prekäre Situationen?
Wir kooperieren eng mit dem Arbeitsinspektorat, das am besten Bescheid weiß. Danach entwickeln wir dann eine Prioritätenliste. Es geht nicht nur um Leiharbeit. Es gibt Leiharbeitsfirmen, die höchst seriös und vorsichtig mit der Corona-Gefahr umgehen.
Kann es sein, dass im Herbst Grenzen wieder zugehen?
Es kann sein, dass einmal ein Grenzübergang wieder kontrolliert wird oder bei der Einreise Testungen verlangt werden. Es können Reisewarnungen ausgesprochen werden wie aktuell zum Westbalkan. Aber das sollten – so hoffe ich – Ausnahmesituationen sein.
Würden Sie im Rückblick die Öffnungsschritte wieder so machen?
Im Nachhinein ist man immer klüger. In manchen Bereichen kann man über die Reihenfolge diskutieren, aber virologisch gesehen waren wir, glaube ich, richtig unterwegs. Politisch war wahrscheinlich das eher späte Reagieren im Kulturbereich ein Fehler. Das würde ich diesmal anders machen. Aber es ist immer so: wenn man einen Öffnungsschritt macht, kommen vier Bereiche und sagen, warum bin es nicht ich?
Sie haben sehr gute Beliebtheitswerte – gibt es so etwas wie Eifersucht in der Regierungsmannschaft, auch der grünen?
Ich habe so eine Team-Situation wie jetzt in der Grünen Regierungsfraktion in meinem Leben noch nirgendwo erlebt. Das ist Freundschaft, Vertrauen.
Und mit der ÖVP?
Was die Kooperation mit der ÖVP betrifft, haben wir dieselbe Situation wie wir sie bei den Verhandlungen kennengelernt haben: zwei grundverschiedene Parteien mit teilweise sehr unterschiedlichen Kulturen, auch sehr unterschiedlichen Politik-Begriffen. Was wir gelernt haben ist, auf Basis echten Respekts voreinander zusammenzuarbeiten. Die extrem schwierige Startphase hat uns zusammengeschweißt. Es gibt echtes Teamwork. Auch die Kooperation mit Sebastian Kurz ist ganz ausgezeichnet.
Er ist Ihnen nie in den Rücken gefallen?
Es gab keine einzige Situation, wo ich den Eindruck gehabt hätte, wir können uns nicht aufeinander verlassen. Es gab immer ein Gefühl des Respekts, und davon lebt dieses Regierungsprojekt auch zu einem guten Teil.
Haben Sie im Rückblick Fehler gemacht?
Natürlich passieren in einer derartigen Ausnahmesituation unter enormem Zeitdruck bei der Bewältigung der größten Pandemie seit 100 Jahren Fehler. Einer war sicher sogenannte Oster-Erlass. Wichtig ist, dass du die Fehler korrigierst und wieder auf Schiene kommst, wenn ein Fehler passiert ist. Das habe ich damals getan.
Sind auch in Tirol Fehler passiert?
Das werden wir uns in der Untersuchungskommission anschauen, die ich total unterstütze. Dann werden wir im Nachhinein wissen, ob da Fehler passiert sind. Es wird extrem spannend, wie die Situation damals wirklich gewesen ist. Dann geht es darum, dass man besser wird und daraus lernt.
Werden sie auf der Straße manchmal angefeindet?
Das ist mir nur einmal passiert. Sehr oft aber kommen Menschen auf mich zu, und wollen sich einfach bedanken.
Wie sind Sie denn mit dem Stress umgegangen in den letzten Monaten?
Ich bin der Typus, der dann besonders ruhig und konzentriert wird, wenn es besonders schwierig wird. Aber in den letzten Monaten war die Belastungssituation schon ziemlich an der Grenze, offen gesagt. Ich habe mir aber die Regeln bewahrt, die ich mit bei meinem Burnout vor Jahren vorgenommen habe: Ich bin jeden Tag im Morgengrauen mit meinem Hund eine halbe Stunde unterwegs, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich lasse das Handy zu Hause. Da ist nur der Donaukanal, die Natur und der Hund, sonst nix. Das tut extrem gut. Und spätnachts am Heimweg nochmals dasselbe.
(Das Gespräch wurde im Rahmen eines Treffens der Bundesländerzeitungen und der Presse mit Gesundheitsminister Anschober geführt.)