Wie haben Sie die Krise erlebt?
WOLFGANG SCHÜSSEL: Ich habe mich zurückgezogen und mein Buch fertig gemacht.
Wo war die Schreibstube?
In Hietzing über den Dächern von Wien. Inmitten der Baumkronen. Da haben wir eine Wohnung, in der wir seit 40 Jahren leben. Das Buch geistert schon länger im Kopf herum. Es musste heraus. Es enthält Aphorismen, Begegnungen und Gedanken, die irgendwann vor dem inneren Auge aufgetaucht sind. In der Krise kann man sich auf sich selbst konzentrieren.
„Was. Mut. Macht.“ heißt das Buch. Es knüpft an das vorangegangene an: „Das Jahrhundert wird heller“. 9/11, die Finanzkrise, die Pandemie: Kann es sein, dass sich die Wirklichkeit nicht immer an Ihren Befund hält?
In den langen Wellen der Menschheitsgeschichte stimmt er. Der Psychologe Steven Pinker hat gesagt: „Was den Menschen am meisten gegen den Strich geht, ist die Idee des Fortschritts.“ Wann war denn die Welt in einem besseren Zustand? Im 30-jährigen Krieg? Bei den Pharaonen? Unter Stalin oder Hitler? Bei allen Schwächen, die unsere Gesellschaft und Europa haben: Es ist nach wie vor eine Zeit, in der wir gerne und gut leben können. Wir haben die Finanzkrise überstanden und werden auch die Pandemie besiegen.
Es wird großer Opfer bedürfen.
Ja, es wird dauern und wird Opfer kosten. Wir haben Wahlen verschoben, in Freiheiten eingegriffen, und wir spannen gigantische Rettungsschirme auf. Es war notwendig, um den Virus zu besiegen. Es wird am Ende gelingen. Die Zeit wird nicht düsterer werden.
Viele vergleichen den Opfergang mit der Zeit nach dem Krieg.
Ich finde das ahistorisch. Einer meiner politischen Vorvorgänger war Leopold Figl. Er hätte 1938 für Schuschnigg die Volksabstimmung gegen Hitler organisieren sollen. Als sie abgesagt wurde, ging er traurig nach Hause. Am Ende saß er in der Todeszelle. Er wurde herausgeholt und von den Sowjets eingesetzt, um Wien zu ernähren. Es gab eine Kuh für ganz Wien.
Wie erklären Sie sich die aufkommende, teils rabiate Skepsis? Der Vorschlaghammer sei nicht notwendig gewesen.
Das muss die Regierung beantworten. Sie hat ja auch die Informationen gehabt. Ich finde auch, dass man manches anders hätte machen können.
Was zum Beispiel?
Ich will nicht in eine Beckmesserei verfallen. Aufgrund der Informationen, die man damals hatte, war es richtig, so zu handeln. Wenn man handeln muss, muss man die Tür des Zweifelns schließen, hat Nietzsche gesagt.
Der Zweifel ist eine geistige Tugend. Darf man ihn aushebeln?
Alles soll man vorher in Frage stellen, aber wenn man sich in einer Notlage für einen Weg entscheidet, muss man danach handeln und dazu stehen. Das schließt die Kritik daran mit ein: Dass Entscheidungen hinterfragt werden. Dass gefragt wird, hat es Alternativen gegeben? Das muss man aushalten.
Befürchten Sie angesichts der wirtschaftlichen Verheerungen ein Erstarken radikaler Kräfte?
Im Gegenteil. Ich glaube, dass die belohnt werden, die bereit waren, Verantwortung zu tragen und zu führen. Die bereit sind, sich hinzustellen und sich für eine Entscheidung auch verwunden zu lassen. Denken Sie an Merkel. Die war schon abgeschrieben, jetzt überlegt man, ob sie nicht eine fünfte Legislaturperiode annehmen soll. Wird sie nicht machen. Dennoch ein interessantes Phänomen. Die Demagogen und Verschwörungstheoretiker können am Rand auf und ab hüpfen und ihre Kommentare hineinbrüllen: Es wird nichts bringen.
Sie sind leidenschaftlicher Parlamentarier. Wurde das Parlament in der Krise marginalisiert?
Ich glaube nicht. Sammelgesetze haben auch wir machen müssen. Was mich mehr stört, ist der Substanzverlust. Die Beschränkung der Redezeit zu kleinen Klangbissen. Politik als Schaulaufen, wie bei Germanys Next Topmodel. In der Krise ist die Macht der Exekutive immer stärker. Wichtig ist, dass die Balance nicht verloren geht. Macht muss immer kontrolliert sein. Karl Pisa, der ein Handorakel für Politiker verfasst hat, hat geschrieben: Macht ist wie ein Messer, das man selber nie dauerhaft in der Hand halten sollte und das man bei jenen, denen wir es auf Zeit übertragen, immer im Auge behalten muss.
Was erwarten Sie sich vom parlamentarischen Ibiza-Ausschuss?
Ich halte wenig von dieser Überschwemmung mit Untersuchungsausschüssen. In vielen Fällen wären sie bei der Justiz besser aufgehoben. Das Parlament ist nicht Paralleljustiz. Auch der Fall Ibiza ist bei der Justiz besser aufgehoben. Abgesehen davon interessiert mich das Thema herzlich wenig.
Wie das?
Für mich ist das ein Déjà-vu. Strache, Kickl und Gudenus haben zweimal versucht, meine damalige Regierung zu stürzen. Für mich ist das keine neue Erfahrung. Die Herren sind mir vertraut. Die Vernünftigen in der FPÖ haben sich damals immer von ihnen distanziert.
Empfinden Sie Genugtuung?
Nein, das ist vorbei.
Im Buch beschreiben Sie die Wähler als rätselhafte Sphinx. Ihre Entscheidungen seien unberechenbar. Sie erwähnen den Wechsel zu Kreisky 1970 oder die Verluste für SPÖ und ÖVP nach der erfolgreichen EU-Abstimmung. Ihre Niederlage aus heiterem Himmel 2006 erwähnen Sie nicht.
Es geht mir nicht um Wählerkritik. Es geht um die eine große Frage, die man am Beginn eines Wahlkampfs nicht immer richtig definieren kann. Wem es gelingt, der gewinnt in der Regel.
Was war 2006?
Ganz offen und selbstkritisch: Ich war ausgelaugt. Ich war zuvor sechs Monate Ratspräsident und alles in einer Person. Dann der Tsunami, die europäische Verfassungskrise, das Nein der Holländer und Franzosen, der Konflikt rund um die Mohammed-Karikaturen. Wir haben wirklich dramatische Probleme gehabt und schwierigste Gipfel mit den Russen und Amerikanern. Ich bin kreuz und quer durch die Welt, das ist bei der innenpolitischen Wahl natürlich nicht honoriert worden.
War es nur die Übermüdung?
Nein, wir waren uns zu sicher, dass die freiheitlichen Wähler, die 2002 zu uns wechselten, bleiben würden. Die Hälfte ist zwar geblieben, aber die andere wieder gegangen. Da hätte uns mehr einfallen müssen.
Sie beschwören im Buch die Idee Europa, ein Leuchtturm sei sie. Aber das Licht flackert unrhythmisch, wie bei einer Glühbirne, die gleich erlischt.
Präzisieren Sie bitte, warum Sie das glauben.
Ich denke an das klägliche Bild, das die EU in der Corona-Krise bot.
Die Blockade bei den Medizingeräten war peinlich, da brauchen wir nichts beschönigen. Andererseits kann man der EU nicht pauschal Versagen vorwerfen. Die Gesundheitspolitik ist nun einmal Sache der Mitgliedsstaaten. Die müssen sich um ihre Intensivbetten und Masken kümmern. Die Prävention war ihre Aufgabe. Ich glaube nicht, dass das Licht Europas erlischt oder auch nur flackert, wenn man sich anschaut, wer sonst leuchtet. Die Chinesen? Die Russen? Die Türken? Die Amerikaner? Die Südamerikaner? Europa ist gerade in dieser schwierigen Zeit noch immer das einzige Lebensmodell, für das es sich zu leben lohnt.
Welche Lehren sind zu ziehen?
Dass Europa in der Gesundheitspolitik intensiver zusammenrücken muss. Dass man gemeinsam Impfstoffe entwickelt und sich in der Bekämpfung auf einheitliche Regeln einigt. Dass wir einander in der Krise unterstützen müssen.
Die wichtigste Kategorie in der Politik sei das Vertrauen, schreiben Sie. Gefährdet die Regierung mit ihrem Grenzmanagement die gute Beziehung zu den Nachbarn?
Österreich tut gut daran, auf die Nachbarn einzugehen. Wir sind neben Deutschland das einzige Land in Europa, das acht Nachbarstaaten hat. Mit fast jedem hatten wir in der Vergangenheit Kriege auszufechten. Mit der EU ist das undenkbar geworden. Man wird die Grenze nach Slowenien öffnen. Auch nach Italien, wenn das einigermaßen beherrschbar ist. Davon unabhängig wird man die italienischen Nachbarn an die Reformen erinnern müssen. Italien ist ja ein starkes Land. Die haben im Norden die besten Industriebetriebe, tolle Universitäten und landesweit ein reiches kulturelles Erbe. Die könnten das Silicon Valley und Kalifornien von Europa werden.
Im Buch merken Sie selbstkritisch an, dass auch Sie als Kanzler mutiger hätten sein müssen. Wo?
Das habe ich von Israels Shimon Peres übernommen. Der hat kurz vor seinem Tod gesagt: „Meine Träume waren nicht groß genug.“ Ich finde, das ist so, wenn man zurückblickt. Ich hätte die Reform der Pensionen, die Sanierung des Budgets oder die Offensive in der Forschung noch entschlossener vorantreiben können. Ich reiche diese Erkenntnis als Ermutigung an die Jungen weiter: Träumt groß, denkt groß!
Sie werden 75. Offene Wünsche ans Leben?
Neugier und Freunde. Diese soziale Distanz war das Schrecklichste an der Krise. Gerade jetzt braucht man Nähe, immer.