Menschen über 65 gelten als Risikogruppe. Als Seniorenvertreter stehen Sie in engem Austausch mit ihnen. Welches Gefühl überwiegt bei den Älteren: Angst, oder Ärger?
PETER KOSTELKA: Die ältere Generation hat generell weniger Angst. In unserem Alter ist einem bewusst, dass die Endlichkeit des Lebens ein Faktum ist, das man nicht zur Seite schieben kann. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, nicht gebraucht zu werden, macht größere Probleme.
INGRID KOROSEC: Das Gebrauchtwerden ist entscheidend. Ich habe in den letzten Wochen oft gehört: „Es ist unglaublich, wie man mit uns umgeht.“ Es geht den älteren Menschen sehr schlecht damit, ständig als „Risikogruppe“ bezeichnet zu werden. Ab einem gewissen Geburtsjahr plötzlich pauschal als alt, krank und Problemfall für die Gesellschaft zu gelten, entspricht nicht der Realität.
Wird alt zu sein in der Pandemie zum Stigma?
KOROSEC: Ja, es entsteht gerade eine neue Form der Altersdiskriminierung. Wir haben in den letzten Jahren intensiv darauf hingewiesen, dass ältere Menschen einen wesentlichen Beitrag leisten. 29 Prozent der Senioren betreuen ihre Enkelkinder, 45 Prozent engagieren sich ehrenamtlich. Diesen Aufgaben konnten sie in den letzten Wochen nicht nachkommen. Die Zuschreibung„Risikogruppe“ hat uns in unserem Selbstbewusstsein sehr getroffen.
KOSTELKA: Als im Zuge der Änderung des Epidemiegesetzes über die Möglichkeit diskutiert wurde, bestimmte Personengruppen von Veranstaltungen auszuschließen, haben wir sofort darauf hingewiesen, dass das in Altersbeschränkungen enden könnte. Die Regierung fühlte sich ertappt und hat einen No-Na-Satz hinzugefügt, dass Diskriminierung aufgrund des Alters nicht zulässig sei. Aber unsere Mitglieder haben sehr deutlich gemacht, dass sie genau das fühlen.
In welchen Situationen?
KOSTELKA: Wenn sie sich beim Anstellen im Supermarkt rechtfertigen müssen, warum sie überhaupt außer Haus gehen. Wenn ihnen nahegelegt wird, dass sie sich von bestimmten Orten fernhalten sollen, weil sie alt sind. Aber eines ist klar: Wenn die Gesellschaft die Älteren aufgibt, besteht die Gefahr, dass sie sich auch selbst aufgeben. Ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten Jahren intensiv gegen Altersdiskriminierung kämpfen und einen neuen Generationenkonflikt verhindern müssen.
KOROSEC: Es gab aber auch eine unglaubliche Solidarität in der Bevölkerung. Viele haben berichtet, dass Nachbarn Hilfe angeboten haben. Um Altersdiskriminierung entgegenzuwirken ist es entscheidend, dass die ältere Generation in Zukunft noch mehr in Entscheidungen einbezogen wird. Bei Bereichen wir der Pflegereform, aber auch Raumplanung oder Verkehr. In drei Jahren wird ein Viertel der Österreicher über 60 sein. Es muss selbstverständlich sein, sie einzubinden.
Welche Auswirkungen wird die Rezession auf Senioren haben?
KOSTELKA: Das werden wir merken, wenn die Diskussion um Pensionsanpassungen geführt wird. Da wird die Bundesregierung beweisen können, was sie unter Solidarität versteht.
Ist für Sie ein Solidarbeitrag von Senioren denkbar?
KOSTELKA: Solidarität heißt nicht: Eine Gruppe bekommt einen Coronatausender oder Ähnliches während die anderen nicht einmal die Inflationsrate abgegolten bekommt. Wir haben als ältere Generation die Krise mitgetragen und werden weiter solidarische Beiträge leisten - aber nicht alleine.
KOROSEC: Der Solidarbeitrag von Senioren ist, wenn sie ihren Kindern und Enkelkindern helfen. Das tun sie mit durchschnittlich 120 Euro pro Monat, bei einer Medianpension von 1100 Euro. Die Behauptung, die immer wieder durchkommt, dass zum Schutz der Senioren ein großer wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, belastet mich schon sehr. Dieses Abwägen von Leben gegen Wirtschaft ist wirklich abzulehnen.
Besonders betroffen von der Pandemie sind Menschen, die in Alters- oder Pflegeheimen leben. Wo ist der richtige Mittelweg zwischen Schutz und Bevormundung?
KOROSEC: Gerade bei Pflegeheimen, wo viele Menschen zusammenleben, die Vorerkrankungen haben, gibt es keine ideale Lösung. Deshalb muss man hier besonders vorsichtig sein, dass es nicht zur Altersdiskriminierung kommt. Jeder einzelne muss jetzt Vorkehrungen treffen und Abstriche machen. Aber wir werden wohl auch in einem Jahr noch eine andere Normalität haben, als die, die wir kannten.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat am Dienstag neue Lockerungen bei Besuchen angekündigt. Wird das die Situation der Bewohner verbessern?
KOROSEC: Wir müssen unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln das Humanste für die Bewohner tun. Den älteren Menschen bedeutet es ungemein viel, dass sie jetzt wieder ihre Enkel sehen dürfen, darüber bin ich sehr froh. Der Kontakt zu Familie und Freunden ist für sie das Wichtigste, oft sogar noch wichtiger als die eigene Gesundheit.
KOSTELKA: Besuche sind unter diesen Umständen auch ein Kostenfaktor. Entscheidend ist aber auch, ob man sich in einem Heim bemüht, Besuche zu ermöglichen, oder ob Druck ausgeübt wird. Etwa, indem gesagt wird: „Wann du mit deiner Familie weggehen willst, kommst du in die Quarantäne.“ Alle Heime sind unter der Kontrolle der Volksanwaltschaft, aber diese Kontrollbesuche können derzeit nicht stattfinden. Man muss sich also bewusst sein, dass sich da ein Dunkelfeld auftut, das möglichst rasch durchleuchtet gehört.
Was ist jetzt wichtig?
KOSTELKA: Es ist wesentlich, älteren Menschen deutlich zu machen, dass sie natürlich gefährdeter sind als andere. Aber auch, dass das nicht bedeutet, auch nur ein Quäntchen an Respekt oder Achtung aufzugeben. Das gilt in Heimen genauso wie im Supermarkt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.
KOROSEC: Trotz aller Vorsicht müssen wir umdenken, was „Risikogruppe“ bedeutet. Das Alter allein sagt nichts aus, entscheidend sind die Vorerkrankungen. Eine fitte 70-jährige ist vielleicht weniger gefährdet als ein 40-Jähriger Ex-Raucher oder ein Diabetiker.
Veronika Dolna