Der 1. März 1970 war ein kühler und windiger Vorfrühlingssonntag. Aber kein gewöhnlicher Sonntag, sondern einer mit Nationalratswahlen. Und Wahlen sind nun einmal wichtig. Außerdem stand ich auf der Kandidatenliste der SPÖ in einem Wiener Wahlkreis und fieberte dem Wahlergebnis entgegen, auch wenn ich einen eher aussichtslosen Listenplatz hatte.
Nichts deutete zunächst darauf hin, dass dieser Wahltag einen Wendepunkt in der Geschichte der Zweiten Republik markieren sollte, indem er eine 25-jährige Periode beendete, in der die ÖVP den Bundeskanzler gestellt hatte (1945-1970) und eine 30-jährige Periode einläutete, in der die SPÖ den Bundeskanzler stellen sollte.
Kreisky war am 1. Februar 1967 als Nachfolger von Bruno Pittermann zum neuen Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt worden und der 1. März 1970 sollte zum Startschuss für seine insgesamt 13-jährige Kanzlerschaft werden. Ich gab zeitlich früh gemeinsam mit meiner Frau meine Stimme in unserem Wahllokal ab und die Stunden des Vormittags schienen viel länger zu dauern als an sonstigen Tagen. Man konnte nichts mehr tun, nichts mehr ändern – nur warten und hoffen.
Um die Mittagszeit begann ich mit Freunden im Burgenland, in der Steiermark und in Tirol zu telefonieren, um sie nach bereits vorliegenden Gemeindeergebnissen zu fragen, in der Hoffnung, mir daraus ein Stimmungsbild machen zu können. Die Methode der „offiziellen Hochrechnungen“ steckte damals noch in den Kinderschuhen und so war jeder sein eigener „Hochrechner“.
Grenzenloser Jubel
Meine Stimmung wurde am Nachmittag von Stunde zu Stunde besser, als schließlich der damalige ÖVP Innenminister Franz Soronics das vorläufige Wahlergebnis mit einem Mandatsstand von 81 SPÖ, 78 ÖVP und 6 FPÖ bekannt gab, kannte der Jubel in der Löwelstraße keine Grenzen: Die SPÖ war seit der Wahl des Jahres 1966 mit ihrem neuen Spitzenkandidaten Bruno Kreisky von 74 Mandaten auf 81 Mandate angestiegen und die ÖVP von 85 Mandaten auf 78 Mandate zurückgefallen. Für die damaligen stabilen politischen Verhältnisse war das ein absoluter Erdrutsch. Die FPÖ war unverändert bei 6 Mandaten geblieben.
Als der offizielle Teil dieses Abends zu Ende war, lud Bruno Kreisky seine engsten Mitarbeiter zu einem freudigen Abendessen in den „Stadtkrug“ ein. Alles erschien uns wie im Traum und man konnte es kaum fassen: Die SPÖ war zum ersten Mal seit den Wahlen vom 9. November 1930 (!) zur Stimmen- und Mandatsstärksten Partei im Nationalrat geworden.
Der Vater des Erfolges
Normalerweise gilt der Grundsatz, dass der Sieg viele Väter hat und die Niederlage ein Waisenkind ist, aber damals zweifelte niemand daran, dass der Vater dieses Erfolges Bruno Kreisky hieß.
Kreisky war ein Phänomen besonderer Art. Geboren 1911, also noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, stammte er aus einer wohlhabenden liberal-bürgerlichen jüdischen Familie. Sein Gerechtigkeitssinn weckte in dem heranwachsenden Bruno Sympathien für die Sozialdemokratie. Sein Vater unterstützte das zwar nicht – ließ ihn aber gewähren. Die Tatsache, dass ihm von Seiten der Arbeiterjugend ein gewisses Misstrauen aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft entgegenschlug, veranlasste ihn zu doppelten Anstrengungen, um in diesen Kreisen akzeptiert zu werden. Er war nicht nur ein hundertprozentiger, sondern ein hundertfünfzigprozentiger Sozialdemokrat, dessen Lebenstraum es war, einmal Chefredakteur der „Arbeiterzeitung“ zu werden.
Flucht nach Schweden
Dementsprechend litt er ganz besonders unter der Zerstörung der Demokratie im Jahr 1933, unter dem Verbot der Sozialdemokratie im Jahr 1934 und unter der Diktatur von Dollfuß, bzw. Schuschnigg bis zum Jahr 1938. Außerdem saß er in dieser Zeit der Illegalität gemeinsam mit oppositionellen Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und Kommunisten fast ein Jahr im Gefängnis.
Und im März 1938, als Hitler in Österreich die Macht übernahm, gelang ihm buchstäblich erst im allerletzten Moment die Flucht nach Schweden. Die fast zehn Jahre der Emigration in Schweden, in denen er auch mit meinem ebenfalls nach Schweden emigrierten späteren Schwiegervater Otto Binder enge Kontakte hatte, prägten Kreisky sehr und wie oft hat er mir später in guter Laune erklärt, dass er meine Frau Margit schon kannte, als sie – ebenso wie sein gleichaltriger Sohn Peter – noch Windeln benötigte.
Kreisky schätzte – wie er immer wieder sagte – das Pathos des Austromarxismus, aber er hatte aus der tragischen österreichischen Geschichte den Wert der Zusammenarbeit in wichtigen Fragen (leidvoll) gelernt und in Skandinavien moderne Formen und Inhalte sozialdemokratischer Politik studieren können.
Für mich persönlich trat Kreisky zunächst 1954 deutlich ins Bewusstsein. Denn in diesem Jahr wurde mein Vater zum Staatssekretär im Handelsministerium in der Regierung Raab/Schärf ernannt und in der gleichen Regierung war Bruno Kreisky Staatssekretär im Außenministerium, sodass mein Vater oft beim Abendessen auf Kreisky oder andere Regierungskollegen zu sprechen kam.
Durch und durch politisch
Persönlich lernte ich ihn gegen Ende der 50er Jahre kennen, als ich Funktionär der sozialistischen Studenten war, weil Kreisky sich für die Vertreter der jungen Generation und der sozialistischen Studenten interessierte und auch Einladungen zu Referaten nach Möglichkeit annahm. Als ich dann ab 1962 als Sekretär im Parlamentsklub der SPÖ arbeitete, dem Kreisky als gewählter Abgeordneter angehörte, entstand ein immer enger werdender Kontakt.
Kreisky war ein durch und durch politischer Mensch, ein homo politicus im wahrsten Sinne des Wortes. Gleichzeitig war er gebildet, las viel, interessierte sich für Schriftsteller und Künstler, hatte erlebt und erlitten was Diktatur, Gefängnis, Flucht und Emigration bedeuten, predigte uns den gravierenden Unterschied zwischen Patriotismus (der ihm wichtig war) und Nationalismus (den er verachtete) und war alles in allem ein Weltbürger und ein Mann mit Eigenschaften. Kreisky konnte auf Widerspruch und Kritik recht grantig und manchmal ausgesprochen heftig reagieren – gleichzeitig schätzte er aber Menschen, die ihm auch widersprachen und eine eigene Meinung hatten. Das war manchmal ein schmaler Grat.
Jedenfalls war der Wahlerfolg vom 1. März 1970 für ihn und für uns alle in diesem Ausmaß überraschend. Noch wenige Tage vor der Wahl – als ich Bruno Kreisky auf einer Wahlreise im Auto begleitete – schilderte er mir seine Hoffnungen und Erwartungen für die weitere Entwicklung: „Wir werden zulegen und die ÖVP wird ihre absolute Mehrheit verlieren. Sie wird zwar noch vorne liegen, aber wir werden jedenfalls wieder in die Regierung kommen. Und 4 Jahre später wird es dann um die Führung im Lande gehen. Und ich glaube, dass wir da gute Chancen haben werden“ lautete sein damaliges Resümee.
Es sollte aber alles viel schneller gehen. Die SPÖ überholte schon am 1. März 1970 die ÖVP und hatte einen Vorsprung von drei Mandaten – aber keine absolute Mehrheit.
Was bedeutete dieses Wahlergebnis?
Zunächst dachten viele an eine neue Große Koalition unter umgekehrten Vorzeichen, also unter dem Vorsitz von Bruno Kreisky. Und auch der Auftrag von Bundespräsident Jonas an Kreisky lautete, eine Koalitionsregierung mit der ÖVP zu bilden. Aber die ÖVP – die nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Josef Klaus von Hermann Withalm geführt wurde – dachte, dass Kreisky keine Alternative zur Koalition hatte, weil ja FPÖ Obmann Friedrich Peter vor der Wahl einen „roten Kanzler“ dezidiert und sogar auf Plakaten ausgeschlossen hatte. Kreisky wollte seinen Wahlerfolg aber nicht am Verhandlungstisch verspielen und freundete sich vorsichtig mit dem Gedanken einer von der FPÖ für etwa ein Jahr geduldeten Minderheitsregierung an.
Der entscheidende Tag war Montag der 20. April: Der Parteivorstand der SPÖ lehnte die Forderungen der ÖVP für die Bildung einer Koalitionsregierung ab. Über Wunsch von Withalm fand darauf während einer Sitzungsunterbrechung ein Vieraugengespräch zwischen Kreisky und Withalm statt, das aber ergebnislos blieb. Noch am gleichen Abend besuchte Kreisky den Bundespräsidenten um 21:40 Uhr in seiner Amtsvilla in Döbling, berichtete ihm über das Scheitern der Verhandlungen mit der ÖVP und informierte gleichzeitig über die Absicht zur Bildung einer Minderheitsregierung. Gleich am nächsten Tag wurde eine von Kreisky geführte Regierung vom Bundespräsidenten vereidigt.
Kreisky hatte nach den erfolgreichen Wahlen vom 1. März 1970 die SPÖ auch in die Nationalratswahlen der Jahre 1971, 1975, 1979 und 1983 geführt und jedes Mal die Position der stärksten Partei erzielt – bei 3 der nächsten 4 Wahlen sogar eine absolute Stimmen- und Mandatsmehrheit.
Der Kern an Werten und Prinzipien
Was mich an Kreisky besonders faszinierte, war, dass man in seiner Persönlichkeit eine enorme „Substanz“ spürte, einen Kern an Werten und Prinzipien sowie ein großes Geschichtsverständnis. Politik hatte für Kreisky die Aufgabe, bestimmte Werte und Ziele zu verwirklichen, gleichzeitig aber die Würde und die Lebensumstände der einzelnen Menschen – insbesondere der Schwachen und Benachteiligten – zu schützen und nicht aus den Augen zu verlieren. Flüchtlinge zum Beispiel waren nicht nur Zahlen.
Natürlich war auch er nicht fehlerfrei. Er war – um ein Lieblingszitat Kreiskys von Conrad Ferdinand Meyer über Ulrich von Hutten zu verwenden – „kein ausgeklügelt Buch, er war ein Mensch in seinem Widerspruch“. Solche Widersprüche gab es in der Biografie Kreiskys zweifelsohne und manche dieser Widersprüche waren auch mit schmerzlichen Fehlern verbunden.
Die letzten Jahre
Die letzten Lebensjahre Kreiskys waren von Krankheit begleitet, die ihm immer mehr zur Last wurde und seine Stimmung stark beeinflusste. Aber das alles ändert nichts an dem politischen und menschlichen Stellenwert Kreiskys in der Geschichte unseres Landes und an der Tatsache, dass sein erster Wahlerfolg ein historisches Datum ist.
Heinz Fischer