Sebastian Kurz ist der erste ÖVP-Kanzler, der das „Kreisky-Zimmer“ im Kanzleramt belegt. In seinem Büro ließ er neben einem Foto von Leopold Figl eines von Bruno Kreisky aufhängen. Der junge ÖVP-Obmann hat den Symbolgehalt des Raumes erkannt. Er veränderte nur die Beleuchtung: Das Zimmer ist stärker ausgeleuchtet und wirkt dadurch frischer, „jünger“. Warum hat ein ÖVP-Regierungschef das Bild eines roten Ex-Vorsitzenden im Blickfeld? „Dieses Zimmer ist ein Ort mit viel Geschichte“, sagt Kurz, „Kreisky hat das Land geprägt.“

Erlernter Beruf: Diplomat

Bei Wahlen war Kreisky und ist Kurz außerordentlich erfolgreich, das verbindet sie. Der jetzige Regierungschef ist freilich so klug, sich nicht überdeutlich mit Kreisky zu vergleichen. Zu verschieden sind beide. Das beginnt beim Alter: Kreisky war 59, als er Kanzler wurde, Kurz 31.
Kreisky, Spross des wohlhabenden jüdischen Wiener Bürgertums, studierte unter schwierigsten Umständen und schloss sein Studium trotzdem ab. Kurz, ein Pendler zwischen dem kleinbürgerlichen Liesing und dem bäuerlichen Zogelsdorf, studierte mit allen Segnungen des Sozialstaates, schloss jedoch sein Studium nicht ab. Kreisky hatte einen Beruf (Diplomat) und war darin erfolgreich; Kurz hat nie einen bürgerlichen Beruf erlernt. Kreisky war ein Kulturmensch, den man oft im Theater, im Konzert, bei Ausstellungen und Lesungen antraf. Über Kurz’ kulturelle Interessen weiß man wenig.

4781 Tage Amtszeit

Auch ihr politischer Ansatz ist unterschiedlich. Kurz sieht die Politik als Managementaufgabe, für Kreisky war sie eine künstlerische Tätigkeit.
Kreisky ist mit 4781 Tagen Amtszeit der längstdienende Kanzler der Zweiten Republik; er steht für das Goldene Zeitalter. Kurz ist in einer Zeit voll Zukunftsangst eine Leuchtrakete, deren Flugbahn und Flugdauer wir nicht kennen.
Bruno Kreisky erzielte vor fünfzig Jahren die relative Mehrheit für die SPÖ. Der 1. März 1970 war ein windiger Vorfrühlingstag. Zunächst deutete nichts darauf hin, dass auf das Vierteljahrhundert, in dem die ÖVP den Bundeskanzler stellte, eine lange Ära der SPÖ folgen sollte. Die Partei rechnete mit Zugewinnen, aber mehr als eine neuerliche Koalition nach der Alleinregierung der ÖVP schien schwer möglich. Kurz nach 12 langten erste Ergebnisse aus Kleingemeinden ein. Im Lauf des Tages wurde klar, dass die ÖVP ihren Vorsprung von 1966 verlieren würde. In der Wahlnacht gab Innenminister Franz Soronics den neuen Mandatsstand bekannt: 81 SPÖ, 78 ÖVP, 6 FPÖ.
Zeitzeuge Heinz Fischer sagt über diese historische Stunde, ihm sei bewusst geworden, dass es in der Demokratie keine „endgültigen Siege“ und keine „endgültigen Niederlagen“ gibt, sondern dass jede Konstellation befristet und korrigierbar ist.

Im Kanzlerzimmer: Kreisky mit FP-Chef Peter
Im Kanzlerzimmer: Kreisky mit FP-Chef Peter © ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com


Bis zum Morgengrauen dauerten die Konsultationen in der Löwelstraße. Das wichtigste Gespräch endete weit nach Mitternacht: Bruno Kreisky und FPÖ-Obmann Friedrich Peter analysierten die Situation. Formelle Vereinbarung gab es noch keine, doch Peter war bewusst geworden, dass seine Festlegung im Wahlkampf („Kein roter Kanzler, keine schwarze Alleinregierung“) ein Fehler gewesen war. Durch den Beistand für eine Minderheitsregierung konnten die Freiheitlichen nur gewinnen. Kreisky lockte mit einer Wahlrechtsreform.

Mit Peter als Partner hatte Kreisky kein Problem. Er hielt ihn für einen gereiften Demokraten, obwohl er zumindest in Umrissen wissen konnte, dass Peter im Krieg einer Mordbrigade angehört hatte.
Über die Taten der Einheit gab es keine Zweifel: „Die Opfer wurden in Partien von sechs Personen zur Grube getrieben und gezwungen, sich niederzuknien. Dann wurden sie auf Kommando von Schützen aus etwa zwei Meter Entfernung mit Karabinern in den Hinterkopf geschossen. Die Kleinkinder mussten von ihren Müttern den Schützen so hingehalten werden, dass sie ebenfalls in den Kopf geschossen werden konnten“ (aus dem Urteil des Landesgerichts Traunstein/Bayern gegen einen SS-Oberscharführer von Peters Brigade).
Peter bestritt nach Kriegsende eine Beteiligung an diesen monströsen Verbrechen, er habe davon nichts gewusst. Eine Mitwirkung konnte ihm nicht nachgewiesen werden; Historiker halten sein Nichtwissen für unwahrscheinlich.

Eigendefinition: "Schutzpatron für die Österreicher"

Die Nachwehen des Nationalsozialismus, die fälschlich sogenannte Affäre Wiesenthal (in Wahrheit eine Affäre Friedrich Peter, doch den Blauen hofierte Kreisky, während er den jüdischen Nazijäger sabotierte), fünf Ex-NSDAP-Mitglieder in der Minderheitsregierung – all das wirft Schatten auf Kreiskys Kanzlerschaft. Er war ein Pragmatiker, der Wahlen gewinnen wollte, und verstand sich bei der NS-Vergangenheit „als eine Art Schutzpatron für die Österreicher“ (Historiker Oliver Rathkolb).
Zu seinen Fehlern gehörte weiters eine Verstaatlichtenpolitik, die lähmende Fehde mit Hannes Androsch und das Unterschätzen der aufkommenden Umweltbewegung. Vieles davon war weit entfernt, als Kreisky am 21. April 1970 angelobt wurde.

"Mut und Lust"

Kurt Vorhofer, legendärer Wiener Korrespondent der Kleinen Zeitung, stellte bei der ersten Pressekonferenz des neuen Bundeskanzlers die Frage, was ihn in diesem Moment erfülle. Üblicherweise ist die Antwort: Man sei sich der Schwere der Aufgabe bewusst und wolle das Beste geben. Kreisky gebrauchte Worte, die kein anderer Politiker verwendet hätte. Er antwortete Vorhofer, er spüre „Mut und Lust“.
Beides sind Eigenschaften, die der heutigen Politik abgehen, vor allem der SPÖ, die rat- und antwortlos durch die Innenpolitik schlingert. Kreisky bot allen, die mit ihm „ein Stück des Weges gemeinsam gehen“ wollten, Sicherheit, Dynamik, Optimismus. Damit legte er den Grundstein für ein modernes, weltoffenes Österreich.
Ich hatte als junger Journalist immer wieder mit ihm zu tun. Er konnte komplexe Vorgänge verdichten und klar kommunizieren – ein Glücksfall für uns Berichterstatter. Sein Umgang mit Medienleuten war so entgegenkommend wie berechnend; er verstand es vorzüglich, Medien zu instrumentalisieren. In den ersten Jahren seiner Amtszeit regierte er mit Interviews und Informationen, die er als vertraulichen „Hintergrund“ bezeichnete. Es konnte vorkommen, dass er am nächsten Tag grollend anrief, weil seine „Hintergrundinformation“ nicht veröffentlicht worden war.
Mit der Wahrheit nahm er es nicht immer genau, konnte aber mit Nachsicht rechnen. „Beim Kreisky sagten die Leute, er lügt, aber er wird schon wissen, warum er lügt“ (Meinungsforscher Rudolf Bretschneider).
Gern gab der „Sonnenkönig“ uns Journalisten das Gefühl, nicht bloß Beobachter, sondern Mitwirkende bei seinen kühnen Plänen zu sein.
Sein Reformdrang ließ kaum einen Lebensbereich unberührt. Diese positiven Veränderungen, heute allesamt Selbstverständlichkeiten, sind sein kostbarer Nachlass.
Nicht alles wurde zu Ende gebracht. Kreisky wusste damit umzugehen. Er war der Meinung: „Das Unvollendete – das ist der Sinn des Lebens.“