Herr Präsident, Sie sind seit 2005 Verfassungsrichter und werden es voraussichtlich bis 2036 bleiben. Ist das nicht eine sehr lange Amtszeit, um immer wieder über aktuelle Politik zu entscheiden?
Christoph Grabenwarter: Als Richter lernt man mit jedem Fall dazu, entwickelt sich mit den Fällen weiter. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer muss auch 45 Jahre arbeiten, bis er seine Pension antreten kann.
Arbeitnehmer, die 30 Jahre beim selben Arbeitgeber verbringen, werden aber auch selten. Die Gesellschaft verändert sich, verliert man in einer so langen Amtszeit nicht das Gespür dafür?
Durch unsere Verfahren wissen wir sehr genau, wie Veränderungen in der Gesellschaft abzubilden sind. Denken Sie an Fragen der Diskriminierung von Minderheiten, Gleichheit von Mann und Frau – da hat sich in den Jahrzehnten der Rechtsprechung des Gerichtshofes sehr viel geändert, auch mit Richtern, die sehr lange an diesem Gericht tätig waren.
Der VfGH kann Gesetze nur aufheben, Höchstgerichte anderswo können auch Recht setzen bzw. den Gesetzgeber dazu verpflichten, in ihrem Sinn zu korrigieren. Würden Sie das auch gerne können?
Es ist gut, dass der VfGH das nicht kann. Die Aufgabe gesetzgebend tätig zu sein, kommt dem Parlament zu. Der Verfassungsgerichtshof ist dafür verantwortlich, zu schauen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Verfassung bleibt.
In Leserbriefen oder Userkommentaren etwa zur Mindestsicherungsreform bekommt man den Eindruck, dass der VfGH den Gesetzgeber zu sehr einschränkt, Österreich „unreformierbar“ wird.
Der rechtspolitische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird keineswegs in Abrede gestellt. Gerade die Entscheidung zur Mindestsicherung hat einen ersten Teil, in dem der Verfassungsgerichtshof eine weite Kompetenz des Bundesgesetzgebers zur Grundsatzgesetzgebung bestätigt hat. Also haben Sie in ein und derselben Entscheidung beides: Sowohl, dass der Spielraum für den Gesetzgeber im Hinblick auf die Grundrechte eng ist, als auch ein klares Bekenntnis zur Zuständigkeit des Bundes, Grundsätze für die Mindestsicherung festzulegen.
Gerade in diesem Erkenntnis hat sich der VfGH mit Sätzen wie „es ist offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten Deutsch nicht benötigt wird“ aus dem Fenster gelehnt. Ist das noch rechtliche Erörterung oder schon politisches Kommentieren?
Man muss die Begründung einer Entscheidung immer vor dem Hintergrund des konkreten Antrags sehen. Wenn vorgebracht wird, dass ein so hohes Sprachniveau jedenfalls gefordert wird, ist das eine zu pauschale, zu strenge Anforderung. Dass man in der Diskussion von der anderen Seite kommen kann, ist legitim, macht aber nicht den Zugang des Verfassungsgerichtshofs unzulässig.
Es wird immer wieder diskutiert, ob der VfGH Gesetze vorab prüfen soll, um leere Meter zu vermeiden. Was halten Sie davon?
Es gibt solche Modelle in anderen Staaten. Unser Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit fußt auf der nachträglichen Prüfung – das hat sich bewährt. Eine Vorabkontrolle würde die Rolle des Verfassungsgerichtshofes verändern, weil er dann Teil des Gesetzgebungsverfahrens wäre. Eine Ausnahme gibt es aber: Bei Staatsverträgen hat sich etwa beim ESM-Vertrag, bei der Diskussion um CETA und TTIP gezeigt, dass es wenig Sinn macht, wenn der Verfassungsgerichtshof erst zur Prüfung berufen wird, wenn viele Staaten schon ratifiziert haben. Deshalb begrüße ich, dass im Regierungsprogramm vorgesehen ist, Staatsverträge schon vorab prüfen zu lassen.
Im Regierungsprogramm ist auch eine Cooldown-Periode vorgesehen, bevor ehemalige Regierungsmitglieder wie Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter Richter am VfGH werden können.
Ich finde, das ist ein guter Vorschlag. Als Professor Brandstetter an den Verfassungsgerichtshof gekommen ist, sind wir sehr streng vorgegangen und haben festgelegt, dass er an keinen Verfahren teilnimmt, die das Justizressort in seiner Zeit als Regierungsmitglied betroffen haben. Wenn der Gesetzgeber solche Situationen jetzt von vornherein ausschließt, entlastet das den Verfassungsgerichtshof und tut ihm auch gut.
Dem Gesetz nach werden Verfassungsrichter dem Bundespräsidenten von Regierung, National- und Bundesrat vorgeschlagen. Praktisch hat sich jede Koalition ausgedealt, welche Partei einen Richter nominiert. Zieht das die Unabhängigkeit des VfGH nicht in Mitleidenschaft?
Es ist auf der ganzen Welt so, dass Verfassungsrichter von Parlament, Regierung oder Staatsoberhaupt ernannt werden. Das trägt zur demokratischen Legitimation bei. Die zweite Seite ist, dass ein Gericht unabhängig sein muss. Das ist dadurch gewährleistet, dass die Politik Persönlichkeiten auswählt, die sich nicht vorschreiben lassen, wie sie in einzelnen Verfahren zu entscheiden haben. Dazu trägt auch bei, dass die lange Amtsdauer jede Möglichkeit der Einflussnahme durch künftige berufliche Tätigkeiten obsolet macht.
Der VfGH entscheidet mit Mehrheit, per Abstimmung unter den Richtern. Wäre es nicht sinnvoll, Abstimmungsergebnisse oder, wie es der US-Supreme Court macht, abweichende Meinungen einzelner Richter zu veröffentlichen?
Das ist eine Frage der Rechtskultur. In den USA steht der einzelne Richter viel mehr im Mittelpunkt. Unser System ist eines, das viel mehr auf Kollegialität, auf Kompromissfindung im Kollegium ausgerichtet ist als, auf eine einzelne Begründung. Jeder Richter wirkt an der Entscheidungsfindung mit. Wenn Sie das personalisieren, steht jeder Richter für eine Einzelmeinung, was letztlich nichts zur Rechtssicherheit beiträgt.
Gibt es Streitfälle, die ganz knapp ausgegangen ist?
Es gibt bei je 13 stimmberechtigten Richtern alle möglichen Abstimmungsverhältnisse. Aber die große Mehrheit der Fälle wird einstimmig entschieden.
Heuer wird das B-VG, Herzstück unserer Verfassung, hundert Jahre alt. Ist es in Würde gealtert?
Jedenfalls in Würde, aber nicht gealtert. Es ist für eine Verfassung erstaunlich jung, eine Verfassung auf der Höhe der Zeit – und das vergangene Jahr mit den Folgen eines Videos hat gezeigt, dass Regelungen von 1929 sich auch 90 Jahre später hundertprozentig bewährt haben.
Sie spielen auf die Kompetenzen des Bundespräsidenten an.
Ich meine das Funktionieren der Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Bundespräsident. Man hat gesehen, dass unsere Verfassung für den Fall einer politisch angespannten Situation sehr gut gerüstet ist.
Die Regierung will die Einführung einer „Sicherungshaft“ auf Verdacht prüfen. Geht das unter der gegenwärtigen Verfassung?
An der Debatte um die „Sicherungshaft“ ist ganz wenig sicher. Ich bin der letzte, der spekuliert, was der Gesetzgeber tun wird oder nicht.
Georg Renner