Vergangenes ist nicht veränderbar. Jedes hinter uns liegende Ereignis lässt sich im Prinzip, wenn alle nötigen Informationen dazu vorhanden sind, objektiv beschreiben und in den jeweiligen zeitlichen Kontext einordnen.
Aber Vergangenes ist damit nicht abgeschlossen, nicht wirklich vergangen. Ereignisse von früher, die uns unmittelbar betroffen oder aber unsere Sicht auf die Welt mit geformt haben, wirken in der Gegenwart nach und bestimmen daher unser derzeitiges Handeln und damit auch unsere Gestaltung der Zukunft mit. Erinnern ist somit auch eine höchst politische Kategorie.
Unser Gedächtnis ist zuallererst individuell. Wir blättern in Familienalben, erinnern uns an unsere Kindheit und an unsere Vorfahren. Wir haben aber auch ein kollektives Gedächtnis, als Gruppe, als Verein oder als eine staatliche Gemeinschaft. Dieses „Wir“ dient uns zur Unterscheidung von anderen, macht uns zum Teil einer kollektiven Geschichte, vermittelt uns Zugehörigkeit. In diese Zugehörigkeit betten wir meist große Teile unserer individuellen Identität ein. Und in einem kulturellen Gedächtnis, festgeschrieben in Monumenten, Büchern und Artefakten, in Hymnen und auch in Symbolen wie Fahnen und nationalen Gedächtnistagen, wurzeln wir tief in der Vergangenheit.
Gerade jetzt, in der Mitte des Monats Februar, bündeln sich solche historischen Ereignisse, die für unser gegenwärtiges Verständnis und unsere politischen Ansichten von hoher Relevanz sind. Der österreichische Bürgerkrieg, also die Ereignisse vom Februar 1934, liegen inzwischen 86 Jahre zurück, kaum jemand wird daran eine persönliche Erinnerung haben, aber sie prägen bis heute politische Zuordnungen.
Vor 82 Jahren war Kurt Schuschnigg, der österreichische Kanzler, bei Adolf Hitler in Berchtesgaden und musste dort Zugeständnisse machen, die den weiteren Verlauf der Geschichte Österreichs und Europas nachhaltig beeinflussten. Und vor 75 Jahren fielen die Bomben auf Dresden, ein Ereignis, das nicht nur in Dresden bis heute unterschiedliche historische Erinnerungskulturen bedient und sich in der aktuellen politischen Situation in unserem Nachbarland spiegelt.
Kampf um die Erinnerung ist also unmittelbar politisch
Der Kampf um die Erinnerung ist also unmittelbar politisch. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, führte etwa Alexander Gauland, der führende Kopf der deutschen AfD, vor knapp zwei Jahren aus. Der mediale Aufschrei, der darauf folgte, war zweifellos berechtigt. Einerseits sind „1000 Jahre“ ein deutlicher Verweis auf ein imaginiertes tausendjähriges Reich, anderseits waren die Verbrechen des Nationalsozialismus von so ungeheurer Dimension, dass das „Nie wieder“ zum Fundament einer gänzlich anderen Politik in Europa werden konnte. Der Tabubruch war daher ein doppelter. Er machte aber vor allem deutlich, dass es in Deutschland und nicht nur dort noch immer Menschen gibt, die unser gemeinsames Verständnis zu den historischen Ereignissen noch immer als oktroyierte Siegergeschichtsschreibung empfinden. Geschichte ist also noch immer, zumindest bei vielen Fragen, ein Kampfplatz.
Von George Orwell, dem scharfsichtigen Beobachter und Kritiker aller Entwicklungen in Richtung der Gefährdung von Demokratie und Menschenrechten, stammt das Zitat: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“ Das macht die Verbindungslinien deutlich. Was heute in unseren Geschichtsbüchern steht, was an Geschichte in den Schulen vermittelt wird, ist nicht einfach Bewahrung eines kulturellen Erbes, sondern beeinflusst auch die Gestaltung unserer Zukunft wesentlich mit.
Ausdruck eines Ringens um das Verständnis der Welt
Je weiter historische Ereignisse zurückliegen, umso eher erkalten sie in ihrem Einfluss auf unser gegenwärtiges Handeln. Der Dreißigjährige Krieg, der einst das europäische Gleichgewicht und die Wertesysteme erschüttert und verändert hat, ist weit weggerückt. Dass Ludwig van Beethoven einst Napoleon glühend bewundert und sich später aber enttäuscht abgewendet hat, ist heute eher ein Teil der Musikgeschichte als Ausdruck eines Ringens um das Verständnis der Welt. Und das Jahrhundert, das seit den Grenzziehungen am Ende des Ersten Weltkriegs vergangen ist, hat zwar dort, wo willkürliche Grenzen und widersprüchliche Versprechungen ein Chaos wie im Nahen Osten hinterlassen haben, dramatische Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Aber zumindest bei uns kann man sich heute auch in dieser Frage treffen. Die einstmals „offene Wunde“, die die Abtrennung der Untersteiermark hinterlassen hat, beginnt zu vernarben und erlaubt schon gemeinsame Annäherungen an die dramatische Vergangenheit. Selbst in Kärnten, wo sich in diesem Jahr die Volksabstimmung zum hundertsten Mal jährt, ist trotz den politischen Vereinnahmungen dieses Ereignisses in den darauffolgenden Jahrzehnten langsam ein gemeinsames Verständnis und eine für beide Seiten annehmbare Sichtweise zumindest in Reichweite. Das sollte sich in diesem Jahr zeigen.
Grundlage für demokratisches Miteinander
Österreich hat nach dem Zweiten Weltkrieg sehr lange nicht ganz erfolglos versucht, die eigene Geschichte nicht allzu genau in der Erinnerung zu haben. Wir waren das „erste Opfer“ der nationalsozialistischen Aggression, wurden 1945 befreit und konnten Schuldfragen somit gut auf den großen Nachbarn abwälzen. Und unter der Daunendecke hielt sich, tradiert in Familien und durch mündliche Weitergabe, ein dicker Bodensatz an Denkweisen, der deutlich machte, wie sehr auch Menschen unseres Landes direkt oder zumindest sympathisierend das Unrechtsregime mitgetragen haben. Erst mit den Diskussionen im Präsidentenwahlkampf von Kurt Waldheim und in der Literatur, mit dem „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard oder mit den „Kindern der Toten“ von Elfriede Jelinek, brach schließlich vieles auf. Die Diskussionen, die heute über unsere Vergangenheit geführt werden, haben daher eine ganz andere Tonlage. Und das Interesse an Geschichte ist deutlich gestiegen. Wurden wir, die wir historisch arbeiteten, noch vor einigen Jahrzehnten nur allzu oft mit Sprüchen wie „Jetzt ist es endlich genug“ bedacht, ja man sah uns oftmals sogar als „Nestbeschmutzer“, so ist heute die Nachfrage nach Information groß und sogar noch im Steigen begriffen.
Erinnerung kann nicht einfach verordnet werden. Sie speist sich immer aus mehreren, sehr oft widersprüchlichen Quellen. Aber die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in einem demokratischen Spektrum zu bündeln, darauf zu achten, dass sie einerseits faktenbasiert sind und nicht von Fake News oder Gerüchten dominiert werden und dass sie anderseits den Grundkonsens, der sich etwa in der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte ausdrückt, nicht verlassen, das ist heute die Aufgabe fundierter historischer Arbeit. Geschichte ist kein Lernfach, in dem es um Jahreszahlen und Ereignisse geht, sondern das Fach liefert eine entscheidende Grundlage für ein demokratisches Miteinander.
Helmut Konrad