Seit 25 Jahren sind Sie Richter. Was ist für Sie in diesem
Beruf die größte Strafe?
Oliver Scheiber: Dass man sich damit abfinden muss, dass man Biografien, in denen Menschen falsch abgebogen sind, mit einer kurzen Intervention wie einem Gerichtsverfahren allein oft nicht korrigieren kann.
Von politischen Interventionen im Justizbereich spricht aktuell Kanzler Sebastian Kurz. Sie leiten das Gericht in seinem Heimatbezirk. Wie sehen Sie diese Debatte?
Grundsätzlich glaube ich, dass Justiz und strafrechtliche Ermittlungen in Korruptionsverfahren vor allem Ruhe brauchen. Insofern ist die aktuelle Debatte für die Justiz ungünstig. Wenn am Ende mehr Ressourcen herausschauen, hat es vielleicht Sinn gehabt. Aber die Politik muss sich bei Wirtschafts- und Korruptionsermittlungen stark zurückhalten.
Der Vorwurf von Kurz lautet auch, dass die SPÖ Einfluss auf Richter und Staatsanwälte ausüben wolle. Nun sind Sie selbst ein SPÖ-naher Richter. Fühlen Sie sich angesprochen oder vielleicht sogar angegriffen?
Nein, gar nicht. Ich selbst fühle mich nicht SPÖ-nahe und bin auch kein Parteimitglied, so wie das die meisten Richterinnen und Richter nicht sind. Der Vorwurf der Parteipolitik in der Justiz ist grundsätzlich absurd. Wer das System kennt, weiß, dass Parteipolitik im Gerichtsalltag keine Rolle spielt.
Misstrauen Politik und Justizeinander in diesem Land?
Ich glaube, dass die aktuelle Diskussion sehr schnell dazu führen kann. Die Politik hat sich Gott sei Dank entschieden, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft einzurichten, um politische Vorgänge zu untersuchen. Und ich denke, man muss dann auch damit leben können, wenn sie das tut. Parteilichkeiten kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen – in keine Richtung.
Hat die politische Gesinnung eines Richters Einfluss auf dessen Tätigkeit im Gericht?
Jeder ist von diversen Haltungen geprägt. Aber in der Ausbildung lernt man, diese zu reflektieren und seine Arbeit unbefangen auszuüben. Mir fallen kaum Beispiele ein, bei denen Richterinnen und Richter diese Haltungen in ein Verfahren haben einfließen lassen.
Dennoch stehen sie manchmal im Verdacht. Marion Hohenecker, Richterin im Buwog-Prozess, wurden Grasser-kritische Tweets ihres Mannes vorgeworfen. Dürfen sich Richter politisch äußern?
Der Hohenecker-Fall war nicht unproblematisch, aber solche Dinge bleiben die Ausnahme. In Zeiten von sozialen Medien passiert das natürlich schneller. Aber ja, ich denke schon, dass es in diesem Beruf mehr Zurückhaltung braucht.
Von Zurückhaltung konnte bei Ihnen letztes Jahr aber auch keine Rede sein, als Sie in einem Buch den Weg der Sozialdemokratie in den sicheren Tod beklagt haben.
Es war wahrscheinlich etwas ungewöhnlich. Ich habe das Buch aus einer starken autoritären Entwicklung heraus geschrieben, die ich in vielen europäischen Ländern und Österreich gesehen habe. Ich glaube aber, dass die Justiz Persönlichkeiten braucht, die gesellschaftlich und politisch reflektieren.
Zurück zu Hohenecker. Die Beschuldigten im Buwog-Verfahren beklagen eine unmenschlich lange Verfahrensdauer. Können Sie das als Richter nachvollziehen?
Ja, so lange Verfahren sind sehr belastend und auch rechtsstaatlich unbefriedigend. Die Ursache sind vor allem fehlende Ressourcen. Österreich hat nur ein Drittel der Staatsanwälte pro Einwohner im Vergleich zum europäischen Durchschnitt. Mit mehr Ressourcen und einem Team an Staatsanwälten wäre es bei der Buwog sicher schneller gegangen. Auch bei großen Komplexen sollte die Dauer nicht über drei oder vier Jahre hinausgehen. Alles andere ist problematisch.
In Ihrem aktuellen Buch „Mut zum Recht“ schreiben Sie, dass man ein Drittel der Insassen aus den heimischen Gefängnissen entlassen könnte. Ist das nicht ein Armutszeugnis für Richter wie Sie, die über Haft entscheiden?
Mit dieser Kritik kann ich leben, denn wir Richter haben daran eben einen Anteil. Aber ich glaube, dass man die Haftzahlen relativ leicht durch weniger und kürzere Untersuchungshaft reduzieren könnte. Zudem könnte eine Angleichung der bedingten Entlassung einiges bewirken. In manchen Teilen Österreichs werden deutlich mehr Menschen bedingt entlassen als im strengeren Osten. Die Gefängnisse sollten den wirklich gefährlichen Menschen vorbehalten sein.
Innenminister Karl Nehammer hat verkündet, was auch sein Vorgänger Kickl getan hat – mehr Planstellen für die Polizei. Doch mehr Polizisten bedeuten mehr Anzeigen, mehr Verfahren und damit mehr Häftlinge. Klingt nicht nach weniger Insassen.
Ich gebe Ihnen vollkommen recht, das ungleiche Verhältnis zwischen Polizei- und Justizpersonal ist bemerkenswert. Ich halte viel davon, dass die Polizei präsent ist. Aber Schwerpunktaktionen können zu einer starken Belastung für die Gerichte führen. Vielleicht sollte man beim Justizpersonal also nachziehen.
Sie schreiben, dass die Strafjustiz bei der Verfolgung von Delikten vorrangig auf jene zurückgreift, von denen am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Woran machen Sie das fest?
Das ist ein globales Charakteristikum des Strafrechts. In den letzten Jahren hat sich hier schon viel getan, dennoch kommen immer wieder viel zu viele psychisch Kranke oder Drogensüchtige für relativ kleine Vermögensdelikte für viel zu lange ins Gefängnis. Dem gegenüber stehen große Umwelt-, Lebensmittel- und Klimaverbrechen, die der Gesellschaft deutlich mehr schaden, die aber deutlich seltener geahndet werden.
Warum gelingt es der Justiz nicht, diese großen Fische zu fangen? Weil die Anwälte von Wirtschaftsbossen schlicht lästiger sind als die Pflichtverteidiger von Kleinkriminellen?
Hier wären wir wieder bei den fehlenden Ressourcen. Bei solchen Komplexen bräuchte es wieder Teams von Staatsanwälten, damit der Druck verteilt werden kann. Auch der politische Wille fehlt. Im Regierungsprogramm finden sich aber erste Schritte in die richtige Richtung, zum Beispiel geplante Reformen im Umweltstrafrecht.
Reformen im Asyl- und Fremdenrecht bringen beinahe halbjährliche Gesetzesnovellen mit sich. Wird die heimische Rechtsprechung in diesem Bereich langsam unübersichtlich?
Ich glaube, dass sich der Staat im Asylbereich als Gesetzgeber ein Eigentor geschossen hat und sich selbst lähmt. Dank der vielen Novellen ist es kaum mehr durchschaubar, welche Gesetzeslage im Einzelfall gilt. Zudem wurden Grundrechte bedenklich abgebaut.
Was soll die neue Justizministerin nun angehen, um ihren Zuständigkeitsbereich auf Vordermann zu bringen?
Ich glaube, dass Budgetverhandlungen ein Knackpunkt sind. Es braucht Geld für die Digitalisierung von Akten und für Kanzleipersonal. Zudem müssten größere Reformen wie jene der Hauptverhandlung angegangen werden. Hier sollte man sich Zeit nehmen, die Täterpersönlichkeit näher anzuschauen. Unsere Rechtsprechung fokussiert auf die Tat, doch eine Beschäftigung mit dem Täter würde treffsicherere Urteile ermöglichen. Auch für die Unterbringung psychisch Kranker braucht es neue Regelungen. Es gäbe also einiges zu tun.