Kinder sollen "möglichst ohne Zwang" aufwachsen können, begründet Türkis-Grün im Regierungsprogramm die geplante Ausweitung des Kopftuchverbots bis 14. Als Einzelmaßnahme halten es Praktiker im APA-Gespräch jedoch für eine Themenverfehlung. "Das Kopftuchverbot verschleiert die wahre Problematik", sagt etwa die Wiener Sonderschuldirektorin Petra Bauer. Soziologe Kenan Güngör fehlt eine Gesamtstrategie.
"Ja, Kinder sollen möglichst ohne Zwang aufwachsen", betont Bauer, die das Zentrum inklusiver Schulen in Wien-Hernals leitet, an dem knapp die Hälfte der Schüler Muslime sind. "Wenn wir als Gesellschaft wirklich Kinderschutz - und vor allem Mädchenschutz - in den Vordergrund stellen wollen, müssten wir ganz viele Dinge angehen. Das Letzte wäre für mich dabei aber die Frage des Kopftuchs."
"Nicht das kleinste Problem - kein Problem"
Viele Mädchen und Burschen in Österreich würden sexuellen Missbrauch erleben, ein Teil ihrer Schülerinnen seien zuhause massiven Repressalien ausgesetzt, erzählt Bauer. Bei der Schuleinschreibung erlebe sie Kinder, die derart vernachlässigt werden, dass sie mit dem Radiergummi zu malen versuchen oder beim Gehen über die eigenen Beine stolpern. Immer wieder gebe es an ihrer Schule Fälle, in denen Eltern ihre Kinder - vor allem Mädchen - davon abhielten, den NMS-Abschluss zu machen oder eine Lehrstelle anzunehmen. "Das ist auch Zwang, aber da schauen wir alle zu", kritisiert Bauer.
"Das Kopftuch ist hier nicht das kleinste Problem, es ist gar kein Problem", sagt sie. Das sei nicht nur an ihrer Schule so, wo drei Zehn- bis 14-jährige Kopftuch tragen. Sie habe mit den Mädchen über ihre Motive gesprochen und bei keiner sei ihrer Wahrnehmung nach Zwang im Spiel gewesen. "Damit ist das für mich OK." Auch im Austausch mit anderen Direktoren sei das Kopftuch nie als Problem genannt worden.
Sexualität und Rollenbilder als großes Thema
Im Alltag von Schulsozialarbeiterin Verena Prasek spielt das Kopftuch nur eine "sehr, sehr kleine Rolle". In der von ihr betreuten NMS in Wien-Floridsdorf sitzen pro Klasse ein bis zwei Mädchen, die ihr Haupt verhüllen. Mit dem Thema Zwang sei sie in ihrer Arbeit allerdings noch nicht konfrontiert worden, betont Prasek. Eher gehe es dabei um die Orientierung an Vorbildern wie der Mutter oder der Schwester. "Das gibt in der Identitätsfindungsphase auch eine Möglichkeit, sich auszudrücken."
Sexualität und Rollenbilder seien an Schulen mit vielen verschiedenen Kulturen hingegen sehr wohl ein großes Thema, so Prasek. Es brauche viel Zeit und Ressourcen, um Mädchen darin zu bestärken, sich nicht in bestimmte Rollen drängen zu lassen, und auch bei den Burschen bestimmten Rollenbildern entgegenzuwirken. Von Verboten und Strafen hält sie wenig, auch in der Zusammenarbeit mit den Eltern. Sie fordert stattdessen mehr Zeit und Möglichkeiten, mit Eltern zu arbeiten, die selbst schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht haben oder an Sprachbarrieren scheitern. "Die Vorbehalte und Ängste sind da oft groß."
"Verbot löst nix"
Der oberste Lehrervertreter Paul Kimberger (FCG) ortet ebenfalls viele andere Probleme, die dringlicher angegangen werden müssten als das Kopftuch in der Schule - zumal es sich dabei ohnehin um kein Massenphänomen handle, wie er betont. "Aber letztendlich funktioniert Politik in Österreich wahrscheinlich über solche Symboldiskussionen." Die Schulen stünden durch Migration und Integration vor großen Herausforderungen. "Aber das Kopftuchverbot löst in diesem Bereich in der Schule überhaupt nichts." Der Gewerkschafter fordert stattdessen mehr Unterstützungspersonal, das die Lehrer im Umgang mit problematischen gesellschaftlichen Phänomenen wie Gewalt unterstützt.
Die von der Regierung angekündigte Ausweitung des Kopftuchverbots bis 14 unterstützt er aus pragmatischen Gründen trotzdem. Immerhin sei es an Standorten mit Volksschule und NMS "schlicht skurril", wenn eine Zehnjährige kein Kopftuch tragen dürfe und eine Elfjährige im gleichen Gebäude sehr wohl. Nachsatz: "Wenn das Kopftuch als Symbol für die Unterdrückung von Frauen gilt, hat das an unseren Schulen nichts verloren."
"Symbolische Kampfarena"
Diese politische Komponente ist der Grund, wieso Soziologe und Politikberater Kenan Güngör das Kopftuchverbot bis 14 grundsätzlich unterstützt. Es handle sich dabei um eine "symbolische Kampfarena", weil es eine der zentralen Zielsetzungen aller islamistischen Strömungen sei. "Es ist nicht nur ein Accessoire. Es bringt die Kinder in ein Feld, wo sie zu wenige andere Entwicklungsoptionen haben."
Für den Soziologen, der für das Bildungsministerium an einer Studie über Werte- und Kulturkonflikte an Schulen arbeitet, ist Zwang dabei übrigens sehr wohl ein Thema. An den NMS im städtischen Raum gebe es pro Klasse plus/minus ein Mädchen, das Kopftuch trägt. Und während das vor allem Mädchen aus konservativen Familien freiwillig täten, gebe es sehr wohl eine Gruppe, die das Kopftuch gegen den eigenen Willen trage und darunter leide. Dazu komme jene Gruppe, die durch "sanften Druck" dazu gebracht werde, indem die Eltern den Mädchen vermittelten, dass sie mit Kopftuch schöner und Gott näher seien.
Als isolierte Maßnahme falsch
Gleichzeitig betont Güngör: "Dass man glaubt, mit dem Kopftuch die Probleme zu lösen, wäre viel zu einfach gedacht". Als isolierte Maßnahme fände er ein Verbot sogar falsch. Er fordert die Einbettung in eine Gesamtstrategie, diese gebe es allerdings derzeit "nicht hinreichend". Immerhin stehe hinter dem Kopftuchverbot die viel grundsätzlichere Frage, wie eine säkulare Schule in einer migrationsgeprägten Gesellschaft mit hoher Religiosität aussieht und dazu gehören für Güngör auch Fragen wie jene nach dem Ethikunterricht und nach der Vererbung von Bildungsungleichheit. Auch wie das Verbot kommuniziert wird, sei entscheidend. Immerhin sei in Österreich die Islamfeindlichkeit stark ausgeprägt.