MICHAEL FLEISCHHACKER: Das ist jetzt natürlich ungünstig, lieber Thurnher, dass ich mit der Beantwortung der Frage, ob etwas gut oder schlecht gewesen ist, beginnen soll, denn darin sind doch eigentlich Sie der Experte. Ich will es aber dennoch versuchen und gleich persönlich werden: 2019 war ein sehr aufregendes Jahr, finde ich, oft sehr gut und nicht selten wirklich mühsam. Gegen Ende hat es sich dann noch einmal ein bisschen katastrophal angefühlt, aber ab einem gewissen Alter ist man Kummer gewohnt. Und Sie so?
ARMIN THURNHER: Wenn es wahr ist, was man so liest, dann ist man heutzutage schon von Jugend auf Kummer gewohnt. Die Stimmung dürfte, um mit den Nachrichten über das Klima zu beginnen, in der Tat nicht besonders sein. Vor allem, wenn man in Australien lebt oder auf einer pazifischen Insel. Man kann es sich aussuchen, ob man lieber Feuer am Dach hat oder einem das Wasser bis zum Hals steht. Aufregend war das Jahr auf jeden Fall. Ob gut oder schlecht, sei dahingestellt. Von vielen schlechten Jahren sagt man im Rückblick, damals sei es noch etwas anderes gewesen!
FLEISCHHACKER: Was ich so höre, war es in Australien immer relativ heiß, aber ich bin natürlich kein Klimaexperte. Ich denke, was sich vor allem erhitzt hat, ist die sogenannte öffentliche Debatte, falls man das hysterische Aneinandervorbeiprallen von Buchstabenfragmenten noch Debatte nennen will. Das betrifft ja praktisch alle Felder des Öffentlichen, nicht nur die Klimadebatte, die aber freilich besonders massiv, weil so gut wie kein Teilnehmer an dem Geschrei eine Ahnung hat, aber jeder eine Meinung. Das kann auch gar nicht anders sein, denn wie man weiß, schließen Ahnung und Meinung einander weitgehend aus.
THURNHER: So schlecht, dass wir hier eine Klimakrisenrelativierungsdebatte vom Zaun brechen wollen, war das Jahr doch wieder nicht! Die Wissenschaft enthebt uns hier des Meinunghabens, und die verzweifelten Appelle der Insulaner, denen das Meer den Grund unter den Füßen wegzieht, waren nur ein Symbol für das Scheitern des Klimagipfels in Madrid. Empirie hilft, fragen Sie einmal einen Forstwirt. Die Erhitzung der sogenannten Debatten, oder sagen wir lieber, der Debattensurrogate hat allerdings mit dem Klima nichts zu tun, sondern mit der Digitalisierung. Sie schafft neue gesellschaftliche Verhältnisse, und solche Übergänge gestalten sich stets eher hitzig und nicht kühl und rational.
FLEISCHHACKER: Ich führe aber sehr gerne Klimakrisenrelativierungsdebatten und halte diese Debatten auch nicht für Anzeichen eines schlechten Jahres. Es geht ja eben nicht darum, Klimaveränderungen zu ignorieren, die sich empirisch eindeutig belegen lassen (was die Ursachen angeht, verlassen wir den Boden der Empirie bereits in Richtung Hypothese), sondern den Krisendiskurs und seine apokalyptischen Auswüchse, die sich in die politische Alltagssprache eingeschlichen haben. Und klar, die Digitalisierung ist schon auch böse. Ich hatte dieser Tage das Vergnügen, verspätet mit dem deutschen Modephilosophen Byung-Chul Han Bekanntschaft zu machen, der mag die Digitalisierung auch nicht und vermisst die Dorfkultur. Ich nicht.
THURNHER: Ich sage nicht, dass die Digitalisierung böse ist. Ich komme ganz gut mit ihr zurecht, kann aber nicht übersehen, dass sie eine neue conditio humana schafft, um es geschwollen auszudrücken. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft wird ein anderer, die Möglichkeiten der Verführung, Überwachung und Verhaltenssteuerung wachsen exponentiell. Brexit wie Trump-Wahl wurden durch digitale Einflussnahme entschieden, und China zeigt, wie die autoritäre Variante der digitalen Gesellschaft aussieht. Trump freut sich über sein Impeachment, das kann er per Twitter-Theater in einen Vorteil für sich ummünzen.
FLEISCHHACKER: Ja, es ist leichter geworden, zu manipulieren, und auch leichter, die Manipulation zu erkennen und zu enttarnen. Ob das eine neue conditio humana bedeutet, weiß ich nicht, ich zweifele eher daran. Das würde doch bedeuten, dass sich am Wesen des Menschen etwas verändert, dabei werden die schon vorhandenen Wesensmerkmale der Gattung durch die erhöhte Geschwindigkeit bloß bis zur Kenntlichkeit entstellt. China ist doch ein gutes Beispiel: Im Vergleich zu dem, was den sowjetischen Machthabern über viele Jahrzehnte an Desinformation, Verhaltenssteuerung und Parallelweltgebarung gelungen ist, wirkt die chinesische Variante wie ein harmloses Computerspiel, in dem man recht schnell sieht, worum es geht.
THURNHER: Das mag sein, ich möchte trotzdem in so einem chinesischen Sozialkreditsystem nicht einmal angemalt sein, wie man sagt. Dieser Dialog zum Beispiel brächte beiden von uns Abzüge bei der Reisefreiheit. Da genieße ich noch lieber das Regime plutokratischer Clowns wie Trump, Johnson oder Bolsonaro. Der Brexit bringt der EU nichts Gutes. Es gibt übrigens nicht viele Staaten, in denen das Leben besser wurde im letzten Jahr, aber von unsereinem gern übersehene Regimes wie der indische Hindunationalismus zeigen ihr unschönes Gesicht. 2019 war ja auch das Jahr der Wahrheit, wenn ich an das Damaskuserlebnis des österreichischen Ex- und Bald-Wieder-Kanzlers erinnern darf, an das Ibiza-Video.
FLEISCHHACKER: Das Jahr der Wahrheit, was für eine schöne Form der Realitätsverkleinerung. Ich würde ja eher sagen, dass jedes Jahr ein Jahr der Wahrheit ist, oder aber keines. Ibiza, ach ja, dieser Glanz- und Höhepunkt des investigativen Journalismus, in dem es den Weltstars der Aufdeckung tatsächlich gelungen ist, festzustellen, dass das tatsächlich Heinz-Christian Strache ist, den man auf dem Video der Wiener Rotlicht-Ganoven sieht. Jetzt kriegen wir dafür Türkis-Grün, ich bin schon jetzt ergriffen.
THURNHER: Lieber Fleischhacker, sie scheinen sich heute im Kleinredemodus zu befinden. Erst Klima, dann Ibiza. Es war doch schön, dass der FPÖ-Chef so ist, wie man es immer dachte, aber nicht zu behaupten wagte. Er selbst erhob ja als schlimmsten Vorwurf, man habe ihm eine Wahrheitsdroge eingeflößt, was naturgemäß das Ende jedes Politikers bedeutet. Wer dieses Aufblitzen der Wahrheit gefilmt hat, ist in der Tat komplett nebensächlich. Den Horror der Welt konnten wir ja kaum streifen, von Syrien bis zu den Uiguren. Aber wir sollten auch vom Positiven sprechen. Damit meine ich weniger Türkis-Grün als die Erfolge des österreichischen Sports.
FLEISCHHACKER: Fast wäre mir dazu Kreisky eingefallen: Reden Sie die Welt nicht so klein, so groß ist sie nicht. Aber das wäre ganz falsch, denn sie ist wirklich groß und wer sie in ihrer Größe nicht sehen kann und erfahren will, der ist arm dran, ob er’s weiß oder nicht. Auf eine gewisse Weise ist der ganze Horror der Welt schöner als noch die harmonischsten Bilder aus der politischen Puppenküche von Minimundus. Das hat, wie so vieles, mit Respekt zu tun. Vor Tod, Vernichtung und Katastrophe kann man wirklich Respekt haben, vor wohlstandsverwahrloster Pseudopolitik nicht.
THURNHER: Bei der Wahl zwischen verlockendem Heroismus und verwahrloster Pseudopolitik tue ich mir nicht schwer (Heroismus schafft immer Leid), mit dem Respekt schon schwerer. Ich wollte aber etwas leichter enden, denn die Ära Hirscher verdient in einem noch so gedankenschweren Rückblick doch eine Erwähnung: So einer kommt nie wieder. Dominic Thiem hingegen bleibt und wird uns erfreuen, wenn uns der Horror der Welt auf die Pelle rückt. Und unsere Fußballnationalteams (Damen und Herren) sind auch nicht schlecht aufgestellt. In mancher Hinsicht haben sie 2019 sogar gerettet, mir gewiss, und vielleicht sogar Ihnen.