In der Wiener SPÖ machte sich eine gewisse Unruhe bemerkbar. Der Abwärtstrend der SPÖ in Kombination mit der Schwäche der FPÖ und dem türkis-grünen Tauwetter bringt das rote Wien in Bedrängnis. „Ich mache mir Sorgen, dass wir auf eine Situation wie beim Champions-League-Finale 1999 zusteuern“, erklärt ein hochrangiger SPÖ-Mitstreiter. „Damals lag Bayern München ab der sechsten Minute mit 1:0 in Front, wähnte sich in Sicherheit und kassierte in der Nachspielzeit gegen Manchester noch zwei Tore.“ SPÖ-Intern macht derzeit eine Umfrage die Runde, die der ÖVP in Wien 22 Prozent, den Grünen 20 Prozent und den Neos acht Prozent zubilligt - in Summe also 50 Prozent. Passiert bei der Landtagswahl im Herbst 2020 das schier Unvorstellbare und fällt das rote Wien? Muss Michael Ludwig um seinen Chefsessel im Rathaus zittern?
Die Nationalratswahl markierte eine Zäsur. Sieht man sich das Wiener Detailergebnis an, so hatten die gemäßigten Kräfte abseits der SPÖ erstmals in der Bundeshauptstadt eine Mehrheit. ÖVP, Grüne und Neos kamen auf 55 Prozent. Dass Türkis-Grün im Bund offenbar vor der Tür steht, steigert die Nervosität. Nicht auszuschließen, dass Sebastian Kurz am Rande der Koalitionsgespräche der Wiener Grünenchefin Birgit Hebein den Bürgermeistersessel anbietet, sofern sich das bei der für Oktober anberaumten Wienwahl arithmetisch ausgeht. Die Neos müssten mitspielen, deren Klubobmann Christoph Wiederkehr hat bereits signalisiert, dass man sich das vorstellen könne. Doch wie realistisch ist es?
Fiele die SPÖ von 39 etwa auf unter 35 Prozent und die FPÖ auf unter 15 Prozent, könnte Ludwig – rein arithmetisch – von einer Dirndlkoalition gestürzt werden. Meinungsforscher halten das durchaus für möglich, allerdings – aus heutiger Sicht – nicht für sonderlich realistisch. „Es gibt keinen Grund, in Angst und Panik auszubrechen“, erklärt Wolfgang Bachmayer (OGM). Peter Hajek sieht es ähnlich: „Es ist nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich.“ Mit folgenden Argumenten: Sollte Türkis-Grün das Licht der Welt erblicken, würden sich die Grünen in der Regierung abnutzen, die FPÖ würde als lautstarke Oppositionspartei wieder an Fahrt aufnehmen. Abgesehen von der nicht zu unterschätzenden Schlagkraft der Wiener SPÖ – im Unterschied zur Bundes-SPÖ.
"Die SPÖ muss Interesse an einer starken FPÖ haben"
Bachmayer verweist allerdings auch auf ein besonderes Paradox: „Die SPÖ muss Interesse an einer starken FPÖ, an einem starken Kickl haben.“ Konsolidieren sich die Freiheitlichen bei 20 oder mehr Prozent, wäre eine Dirndlkoalition in Wien endgültig vom Tisch. Zerbröseln die Freiheitlichen und tritt noch dazu Heinz-Christian Strache an, könnten SPÖ und FPÖ eine Mehrheit blockieren wäre die blockierende Mehrheit aus SPÖ und FPÖ Geschichte.