Herr Ennser-Jedenastik, was entscheiden wir als Wähler heute eigentlich?

Laurenz Ennser-Jedenastik: Man hört im Wahlkampf oft, die Wähler entscheiden, wie die Regierung ausschaut, sogar von Politikern. Das ist natürlich Schwachsinn. Die Wähler legen die Basis für parlamentarische Mehrheiten, aber der Wahltag ist heuer wahrscheinlich weniger spannend als das, was danach kommt.

Sie meinen die Umfragen, denen zufolge die, ÖVP fix vor der SPÖ liegt, die SPÖ auf dem ungefähr selben Niveau wie die FPÖ.

Genau. Symbolisch mag für manche Leute wichtig sein, wer Zweiter oder Dritter wird, aber praktisch ist das wurscht, solange es nicht die Möglichkeiten der Mehrheitsfindung ändert.

Die meisten Parteien legen Wahlprogramme vor, in denen sie darlegen, was sie in den nächsten Jahren vorhaben. Wie viel davon findet dann tatsächlich den Weg in Regierungsprogramme?

Meine Kollegin Katrin Praprotnik und ich haben dazu geforscht. Ein bisschen mehr als die Hälfte von der Wahlversprechen, die die späteren Regierungsparteien in ihren Wahlprogrammen machen, werden tatsächlich auch umgesetzt.

Heißt das, die Hälfte der Wahlversprechen sind gelogen?

Es ist eine Mischung. Es gibt sicher die Koalitionen, die eine echte Hürde sind. Manchmal spielen auch externe Faktoren mit, die Wirtschaftslage zum Beispiel. Manche Sachen sind gar nicht in der Zuständigkeit des Bundes. In der Analyse, unter welchen Umständen etwas umgesetzt wird, haben alle diese Faktoren einen Einfluss. Ist es in der alleinigen Kompetenz des Bundes, dann werden diese Dinge eher umgesetzt. Die Sachen, die Geld kosten, werden dann eher umgesetzt, wenn die Wirtschaft besser läuft, was auch nicht so überraschend ist. Und wenn eine Partei etwas verspricht und dann das zuständige Ressort in den Koalitionsverhandlungen kriegt, dann haben diese Sachen auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.

Den meisten Wahlanalysen zufolge waren 2017 bei jungen Wählern zwei Parteien besonders stark: Die FPÖ war bei unter 29-Jährigen am stärksten, die Grünen liegen weit über ihrem normalen Ergebnis. „Wachsen“ diese Ergebnisse mit den Wählern mit?

Nicht automatisch. Die Wähler aus der älteren Generation haben noch viel stärkere Parteibindungen  – normalerweise zu den ehemals großen Parteien wie ÖVP und SPÖ. Alleine durch den Generationenaustausch von Stamm- zu mobileren Wählern entsteht ein signifikanter Wählerstrom von SPÖ und ÖVP hin zu Grünen und FPÖ. Die jüngeren Wähler sind viel flexibler, entscheiden sich später und sind weniger an die großen Parteien gebunden.

Verändert sich dadurch auch das Wesen der Parteien?

Wir hatten lange Jahre ab Mitte der 50er bis Mitte der 80er ein extrem stabiles Wahlverhalten. Das spielt’s nicht mehr, das ist vorbei. Wir bewegen uns aber nicht auf eine neue Normalität hin – in der sich aber nicht mehr alles auf einem anderem Niveau einpendelt, sondern es ist normal, dass alles immer volatil ist. Man sieht das etwa an den Grünen, die 2017 binnen Monaten durch eine Reihe von Eigentoren ein passables Ergebnis komplett verspielt haben.

Damals fielen sie nach dem Abgang Eva Glawischnigs, der Abspaltung der Jungen Grünen und Peter Pilz' aus dem Nationalrat.

Durch interne Konflikte Wähler zu vertreiben kann ziemlich schnell gehen. Auf der anderen Seite hat es die ÖVP geschafft, von ihren 21, 22 Prozent einfach durch die Installation von Kurz als Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten, 10 bis 12 Punkte in der Wählergunst zu gewinnen. Das sind schon Dinge, wo man sich fragt, was soll das eigentlich?

Tut das dem demokratischen System gut?

Auf der einen Seite ist es nicht so schlecht, wenn Wähler kritisch sind und nicht unter allen Umständen zu einer Partei halten. Stammwähler wird es immer geben, aber wenn es so ist, dass Parteien für ihre Performance belohnt oder bestraft werden, dann wäre es vorteilhaft. Das Gegenbeispiel sind die USA, wo eine Partei fast machen kann, was sie will und das geht trotzdem und es gibt 45 bis 50 plus. Dort gibt es ganz wenige Wechselwähler. Die haben den gegenläufigen Trend. Wir haben den Trend in Europa, wo die Wechselbereitschaft viel stärker zunimmt und da könnte die Rechenschaftspflicht steigen, theoretisch.

Das ist aber eher ein schöner Traum, oder?

Es hat auch den Effekt, dass Dinge, die nicht wahnsinnig wichtig sind, Wählerbewegungen auslösen, wo man sich denkt, was ist jetzt eigentlich passiert. Wenn ich jetzt ein langjähriger, hoher ÖVP-Funktionär wäre den Unterschied zwischen 20 und 33 Prozent sehe, einfach weil man jetzt die richtige Person vorne an der Spitze hat, dann wird die Auswahl des Personals – wie attraktiv ist jemand für den Wähler – in Zukunft viel mehr Platz einnehmen als programmatische Fragen oder wie kompetent ein Kandidat als Führungsperson im Ministerium wäre.

Ist das gescheit?

Der Job von Spitzenpolitikern ist extrem anspruchsvoll in allem, was verlangt wird – man soll Wahlkampf-Zugpferd genauso seien wie Policy-Experte und Manager einer Ministerialbürokratie, internationaler Verhandler und so weiter. Aber die höhere Wähler-Volatilität bewirkt, dass das Augenmerk hauptsächlich auf der Rolle als Stimmenbringer liegt. Das kann bedeuten, dass in der Selektion des Personals andere Aspekte zu kurz kommen.

© Christoph Kleinsasser

Ist unser Parteiensystem dieser Dynamik noch angemessen?

Es ist ja selbst ein Resultat dieser neuen Dynamik. Was in den letzten 30 Jahren an neuen Parteien entstanden ist, spiegelt diese Volatilität bei den Wählern wider. Die politische Landschaft in Österreich entspricht ziemlich dem Standard des westeuropäischen Parteiensystems. Mit Ausnahme einer sehr weit links stehenden Partei, die es in Österreich auf Bundesebene nicht gibt, haben wir alles, was in Europa üblich ist.

Gibt es in Österreich so etwas wie die amerikanischen Swing States – Bundesländer, in denen sich die Wahl entscheidet?

Nein, das ist immer ein Blödsinn. Die Wahl wird nirgends und überall entschieden. Jede Stimme zählt gleich viel und es geht einfach nur darum, wie viele Stimmen ich kriege. In den Bundesländern gibt es Regionen, wo sich mehr bewegt und andere, wo sich weniger bewegt. Da gibt es ein bisschen ein Ost-West-Gefälle, aber auch im Süden ist es zum Teil so, die Steiermark ist sehr prominent.

Inwiefern?

Wenn eine Partei auf Bundesebene insgesamt Stimmen gewinnt oder verliert, dann sind diese Verluste oder Gewinne in der Steiermark immer besonders stark ausgeprägt. Im Burgenland ist das viel schwächer ausgeprägt. Das deutet darauf hin, dass die Leute in der Steiermark volatiler sind und im Burgenland wenig volatil, in Niederösterreich auch sehr wenig, in Tirol und Vorarlberg dann wieder stärker.

Kommt das aus historischen Gegebenheiten?

Man kann annehmen, dass im Burgenland die Parteiorganisationen von ÖVP und SPÖ noch extrem gut in Schuss sind bis hinunter in die kleinen Gemeinden. Die Steiermark hat ein großes urbanes Zentrum und sie hat auch ein sehr kompetitives, landespolitisches System, wo es drei Parteien gibt, die realistischerweise Nummer 1 werden können. Da gibt es eine längere Tradition, die ÖVP war hier immer viel stärker unter Konkurrenz als in Niederösterreich.