Noch keine Generation vor uns hatte in Österreich die Aussicht auf ein so langes Leben. Was bedeutet das für einen Demografen?
RAINER MÜNZ: Die Gesellschaft altert ja nicht, weil jeder und jede von uns biologisch ein Jahr älter wird. Das würden wir auch in einer nicht alternden Gesellschaft. Das Altern der Gesellschaft bedeutet eine Verschiebung von den Jüngeren zu den Älteren, es gibt also mehr Alte und in Relation dazu immer weniger Junge.
Welche Ursachen sieht der Bevölkerungswissenschaftler?
MÜNZ: Zum einen, und das ist das Erfreuliche, steigt die Lebenserwartung: In allen Altersstufen geht die Sterblichkeit zurück, wir leben im Schnitt länger und sind auch länger fit. Das ist ein dynamischer Prozess, der die letzten Jahre und Jahrzehnte angehalten hat und bislang nicht zum Stillstand kam, obwohl das Expertinnen und Experten in der Vergangenheit immer wieder vorhergesagt haben. Die Lebenserwartung steigt nach wie vor um zwei bis drei Monate im Jahr. Das sind vier bis sechs Stunden pro Tag.
Was beobachten Sie außerdem?
MÜNZ: Die Alterung unserer Gesellschaft hat auch mit der gesunkenen durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie zu tun. Dazu kommt eine weitere Dynamik, die seit den 1970er-Jahren zu beobachten ist: Wir bringen unsere Kinder im Laufe unseres Lebens immer später zur Welt, und das führt zu einer gewissen Ausdünnung der Bevölkerung.
Was heißt das?
MÜNZ: Wenn wir Kinder mit 20 Jahren bekommen, dann haben fünf Generationen in einem Jahrhundert Platz. Bekommen wir sie mit 25, dann sind es vier Generationen. Und wenn wir sie jenseits der 30 bekommen, dann haben nur drei Generationen in einem Jahrhundert Platz. Bei gleicher Kinderzahl hat eine Gesellschaft, die ihre Kinder mit 20 bekommt, mehr Menschen als eine, die ihre Kinder mit 35 bekommt.
Braucht Österreich die Zuwanderung?
MÜNZ: Das kann man als Demograf nicht ohne Weiteres sagen. Würde das Pensionsalter deutlich angehoben und würden wir alle länger im Berufsleben bleiben, gäbe es noch länger keinen Arbeitskräftemangel, der durch Zuwanderung ausgeglichen werden müsste. Man könnte auch stärker auf Automation setzen, wie es etwa die japanische Gesellschaft macht, wo die Alten zunehmend nicht nur von Menschen, sondern auch von Robotern gepflegt werden. Diesen Robotern kann man Töne, menschliche Sprache und sogar ein Lächeln beibringen. Und diese können natürlich verschiedene Tätigkeiten durchführen. Pflegeheime brauchen dann weniger Pflegekräfte verantworten. Digitalisierung kann auch andere Berufstätige überflüssig machen.
Serie: Österreich neu denken
Eine schauerliche Vorstellung. Wozu raten Sie als Demograf?
MÜNZ: Ich rate zu einer Mischung, aber letztlich ist das eine politische Entscheidung. Aber ich bin nicht dagegen, dass Menschen im Alter länger arbeiten. Ich finde es auch sinnvoll, die Zuwanderung von Arbeitskräften zuzulassen. In Österreich findet sie ohnehin statt, weil die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer aus anderen EU-Staaten kommt. Und die meisten EU-Staatsbürger, die nach Österreich kommen, sind hier berufstätig. Die größte Zahl stammt aus Deutschland, in jüngerer Zeit kommen auch Arbeitskräfte aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn.
Sie haben einmal einen Text mit dem Titel „Das graue und das bunte Österreich“ geschrieben. Was ist darunter zu verstehen?
MÜNZ: Wenn man die Metapher aus der Farbenlehre auf die österreichische Bevölkerung überträgt, dann sieht man, dass beides stattfindet: Die Zahl der Menschen über 65 wird jedes Jahr größer. Wir werden grauer. Gleichzeitig hat sich Österreich von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland entwickelt. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg gab es große Auswanderungsströme nach Übersee. Später emigrierten wir nach Deutschland oder in die Schweiz. Heute wandern mehr Menschen ein als aus. Das führt dazu, dass unsere Gesellschaft bunter wird: Es gibt eine größere Vielfalt an Muttersprachen, Religionen, Herkünften.
Welche Herausforderungen bringt das mit sich?
MÜNZ: Österreich begann in den 1960er-Jahren, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Das schien damals eine Lösung zu sein, die auf Zeit Lücken füllt, aber keine Dauerperspektive darstellt. Aber viele Menschen, die damals als Gastarbeiter kamen, sind geblieben und haben später ihre Familie nachgeholt. Erst 25 Jahre später haben wir in Österreich ernstlich begonnen, die Integration dieser Menschen zu fördern.
Die Fremdenfeindlichkeit stieg in dieser Zeit. Man kann sich noch an die Kolaric-Plakate aus den 1970er-Jahren erinnern, mit denen man gegen Ausländerfeindlichkeit angehen wollte: „I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sogn’s zu dir Tschusch?“
MÜNZ: Das war, wenn man so will, ein erster, schüchterner Versuch, sich dem Thema Integration zuzuwenden. Es war ein viel zu schwaches Signal. Und es war noch nicht von intensiven Bemühungen begleitet – zum Beispiel die Deutschkenntnisse von zugezogenen Schülerinnen und Schülern durch Intensiv-Unterricht systematisch zu verbessern. Da sind wir heute weiter, denn es wird viel mehr Aufmerksamkeit darauf gelegt.
Sie sind einer der Berater von Jean-Claude Juncker in den Bereichen Soziales, Migration und Demografie. Welche großen Brocken sehen Sie diesbezüglich in Österreich?
MÜNZ: Wir müssen als alternde Gesellschaft wettbewerbsfähig bleiben. In einer ergrauenden Gesellschaft gibt es auch mehr ältere Arbeitnehmer. Für sie ist es wichtig, sich fortbilden zu können. Denn Teile unserer Wirtschaft stehen in einem internationalen Wettbewerb mit anderen Staaten innerhalb und außerhalb der EU.
Was braucht es zur Wettbewerbsfähigkeit?
MÜNZ: Eine gut ausgebildete Bevölkerung, die Arbeit hat, Güter und Dienstleistungen produziert, die eine hohe Wertschöpfung haben, damit auch hohe Löhne gezahlt werden können, die von den Unternehmen durch entsprechende Erzeugerpreise verdient werden. Um da mithalten zu können, sind Innovation und Qualifikation entscheidend. Deshalb benötigen wir mehr berufsbegleitende Weiterbildung.
Was braucht es im Sozialen?
MÜNZ: Gesellschaften, in denen die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen nicht zu groß ist, sind in der Regel friedlichere und zufriedenere Gesellschaften. Auch die Alterung spielt eine Rolle: Wir werden in Zukunft mehr Nachfrage nach Pflege haben.
Auch wenn vier Wochen vor der Wahl beschlossen wurde, dass die meisten Pensionen angehoben werden: Die Altersdiskriminierung steigt. Versicherungen werden teurer, Überziehungsrahmen kleiner, Kredite nicht vergeben.
MÜNZ: Man muss beide Seiten sehen. Auch ältere Menschen haben berechtigte Konsumwünsche, die für manche nur über einen Kredit finanzierbar sind. Das reicht von einer neuen Waschmaschine über einen längeren Urlaub bis zum nächsten Auto. Die Banken versuchen dagegen, ihr Risiko zu begrenzen. Denn wenn ein Kreditnehmer oder eine Kreditnehmerin stirbt, sind die Erben nicht verpflichtet, das Erbe anzutreten, falls die Hinterlassenschaft vor allem aus Schulden besteht. Bei einem Wohnbaukredit besteht dieses Problem hingegen nicht, weil die gekaufte Wohnung oder das gebaute Haus in der Regel als Sicherheit dienen können.