Herr Knaus, am 29. September wird in Österreich gewählt. Politiker fast aller Parteien sprechen sich dafür aus, dass endlich gehandelt werden muss. Änderungen fordern allein reicht nicht. Was muss konkret passieren?
GERALD KNAUS: Wir brauchen eine realistische Debatte. Ein Ausgangspunkt dafür müssen die Erfahrungen der vergangenen Jahre sein. Wir haben zu viele Vorschläge erlebt, die nicht durchdacht waren, weil sie die Interessen derjenigen, auf die es ankam, nicht berücksichtigten. Deshalb drehen wir uns seit Jahren im Kreis.
Nennen Sie ein Beispiel?
KNAUS: Bei der Seenotrettung wird oft gesagt: Es wäre besser, wenn Menschen, die Europa über das Mittelmeer erreichen, in sichere Länder zurückgebracht werden könnten, damit sich niemand mehr auf den Weg begibt. Das ist theoretisch richtig. Diese Idee lag auch dem EU-Türkei-Abkommen zugrunde. Nur hilft Theorie in der Politik nicht, wenn man geltendes Recht und die Interessen Betroffener nicht berücksichtigt.
Wie lautet das geltende Recht?
KNAUS: Bevor jemand aus Europa in ein Drittland gebracht werden kann, muss er die Möglichkeit bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Dann muss vor der Abschiebung der Nachweis erbracht werden, dass im Drittland keine Gefahr droht – auch nicht die, von dort ohne Verfahren weitergeschoben zu werden. In jedem Einzelfall muss schnell entschieden werden, ob ein Drittland sicher ist. Jeder Politiker, der heute einen Vorschlag zum zentralen Mittelmeer und zur Rückführung nach Nordafrika macht, sollte daher als erstes erklären, wie wird das endlich auf den griechischen Inseln hinbekommen. Dort gelingt es Griechenland und der EU seit drei Jahren nicht.
Die Türkei ist seit drei Jahren immerhin zur Kooperation bereit.
KNAUS: Ja, und im Gegensatz zu Tunesien haben die Türken der EU vorgeschlagen, Leute zurückzunehmen, wenn sie dafür etwas bekommen. Wenn wir also Tunesien zur Kooperation bewegen wollen, muss die EU mit Tunis darüber reden, was deren Interessen wären. Wenn Politiker nur theoretisch darüber reden, dass es doch Länder in Nordafrika geben könnte, in die man aus Seenot gerettete Menschen zurückbringen sollte, und nicht erklären, wie sie die rechtlichen, politischen und logistischen Hürden für so eine Kooperation überwinden, bluffen sie. Das ist dann keine seriöse Diskussion.
Was müssten man also tun?
KNAUS: Die EU könnte Tunesien oder Marokko ein ähnliches Angebot machen wie vor zehn Jahren der Ukraine oder 2016 der Türkei. Wenn Tunis eigene Bürger sowie Drittstaatler zurücknimmt und humane Behandlung und faire Asylverfahren im Land garantieren kann, würde die EU visafreies Reisen für tunesische Touristen anbieten. Das wäre ein ernsthaftes Angebot. Ein solches würde auch in Marokko die Debatte ändern.
Ist es in der EU überhaupt mehrheitsfähig, Marokkanern eine visafreie Einreise zu ermöglichen?
KNAUS: Heute noch nicht. Das ist die zweite Seite einer bislang oft unseriösen Debatte: Jeder Vorschlag muss natürlich Mehrheiten und Regierungen in Europa überzeugt. Es ergeben sich Fragen: Was wären Bedenken der Innenminister? Wäre das Asylsystem überfordert, wenn viele Marokkaner einen Antrag stellen? Was müsste dafür zunächst geschehen. Doch diese Fragen sind lösbar, das zeigt die Erfahrung mit der Ukraine.
Auch für Marokko?
KNAUS: Ja. Das Ziel der EU muss es doch sein, dass es in der Welt, auch rund um Europa, mehr Staaten gibt die sichere Drittstaaten sind. Nochmal zur Ukraine: diese hat 42 Millionen Einwohner, Marokko 35 Millionen. Die Ukraine hat ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen als Marokko. Zudem ist in der Ukraine Krieg. Dennoch hat die EU vor zwei Jahren die Visapflicht aufgehoben und trotzdem hat sich die Zahl der Asylanträge aus der Ukraine im Vergleich zu 2014 halbiert. Die Ukrainer nehmen auch schnell jeden zurück, der keine Aufenthaltserlaubnis hat. So wurde die polnisch-ukrainische Grenze jene EU Außengrenze, über die wir am wenigsten reden.
Woran hakt es in der Debatte?
KNAUS: Die Grundfragen sind zwei: Wie überzeugt man andere, die man braucht? Und wie setzt man Ideen um? Seit zehn Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie man Innenministerien von offenen Grenzen überzeugt. Seit 2010 hat die EU die Visapflicht für 100 Millionen arme Europäer aufgehoben. Dazu musste aber viel geschehen. Was nichts nützt sind ideologische Forderungen, scheinbar einfache Lösungen wie: „Schicken wir alle zurück“, ohne Erklärung, wie. „Mehr legale Wege“ ohne Erklärung, wen man davon wie überzeugen kann. Abstrakte Debatten und apodiktischen Positionen verhindern auch, dass wir bei der Seenotrettung erkennen: wir müssen retten. Aber wir dürfen nicht mehr Leute auf das Meere locken. Der Ausweg liegt in Partnerschaften und in besserer Diplomatie.
War das Dublin-Verfahren ein Fehler, wenn man aktuell auf Italien schaut?
KNAUS: Ein sich immer noch haltendes Klischee in der Diskussion über Migration ist, dass Dublin unfair ist und die Ursache für Probleme in Italien. Wenn wir in den vergangenen zehn Jahren Dublin ersetzt hätte mit einem System wie in Deutschland, wo Asylwerber unter Bundesländern mit einem fixen Schlüssel verteilt werden, hätte Italien in allen Jahren außer 2016 und 2017 Menschen aus Nordeuropa zurücknehmen müssen. Doch tatsächlich haben selbst Dublin-Überstellungen nach Italien nie funktioniert. 2018 lagen die Asylanträge schon wieder weit unter dem, was Italiens Anteil bei einer fairen Verteilung in der wäre. Das gilt auch für andere Mittelmeerländer. Das Problem von Dublin war nie deren Benachteiligung. Und das Land, das im letzten Jahrzehnt pro Kopf die meisten Asylanträge hatte war Schweden. Und das ist am weitesten von den Außengrenzen entfernt. Wir bräuchten endlich eine Diskussion, die auf Fakten und nicht auf Klischees aufbaut. Und auf Ehrlichkeit. Das Interesse von Österreich und Deutschland ist es, irreguläre Migration zu reduzieren, durch humane Grenzen, wo weniger Menschen sterben möglich. Um das zu erreichen, brauchen wir Partner.
Wer wäre das konkret?
KNAUS: Ein Beispiel: 2018 kamen 60.000 Menschen über das Meer nach Spanien, eine Rekordzahl. Neben Marokkanern kamen vor allem Westafrikaner. Niemand von ihnen stellte einen Asylantrag, weil bis auf die Marokkaner alle wussten, sie würden ohnehin in Spanien bleiben können, denn es gab nach Westafrika praktisch keine Rückführungen. Gäbe es für Menschen, die über den Zaun in Melitta und Ceuta klettern, die Aussicht auf schnelle Verfahren und die Wahrscheinlichkeit schnell in das Heimatland abgeschoben zu werden, könnten man den Stacheldraht abnehmen. Gäbe es dazu legale Migrationsmöglichkeiten umso mehr. An diesem Dreiklang aus schnellen Verfahren, attraktiven Abkommen mit Nachbarstaaten und Ursprungsländern und dann einem Verteilungsschlüssel für die wirklich Schutzbedürftigen, hätte die EU arbeiten müssen. Und müsste es heute auch. Italien zeigt, was passiert, wenn Parteien der Mitte von Emotionen getrieben, einmal Hunderttausende mit Militärschiffen holen und im nächsten Moment mit Folterern kooperieren. Das Ergebnis ist der Aufstieg von Matteo Salvini.
Ist es denn sinnvoll, Seenotretter zu unterbinden, um einen Magneteffekt zu verhindern?
KNAUS: Dass wir in Europa im Jahr 2019 darüber diskutieren, ob man Leute in Seenot sterben lassen sollte oder darüber jene, in der Zivilgesellschaft Geld sammeln, um freiwillig zur Rettung auf See zu fahren, durch Strafen davon abhalten zu wollen, ist ein dramatisches Zeichen, wie viel hier schiefgelaufen ist. Seenotrettung ist ein Gebot, das selbst im Krieg gilt, wo die feindliche Besatzung eines versenkten Schiffes aufgenommen werden muss. Heute gibt es auch kaum noch große Bewegungen über das Mittelmeer. Wir müssen retten – aber wir müssen auch zugeben, Rettung alleine verhindert nicht, dass Menschen sterben.
Wo müssen wir ansetzen?
KNAUS: Konkret sollten wir vier Dinge sofort tun. Erstens: jede Unterstützung für Libyen davon abhängig machen, dass jeder, den die libysche Küstenwache zurückbringt, schon am Hafen an UNHCR und IOM übergeben, und nicht in Lager gebracht werden. Im ersten Halbjahr 2019 waren das weniger als 4.000 Menschen. Zweitens diesen helfen, diese Menschen und alle die jetzt in Lagern sind – derzeit weniger als 6.000 Menschen - aus Libyen heraus in andere sichere Länder zu bringen, wie Niger oder Ruanda. Drittens: von dort jene, die keinen Schutz brauchen, mit IOM in die Heimatländer zurückbringen, und Schutzbedürftige umverteilen. Da kann sich auch Österreich beteiligen. Und viertens: jene die von europäischen Schiffen gerettet werden - derzeit einige Hundert im Monat – nach Malta bringen und von dort unter einer Koalition von Willigen in Europa aufteilen. Das wäre mit Willen und Konzentration alles machbar. Und auch Österreich könnte sich dabei beteiligen.
Ingo Hasewend