Frau Hofmarcher, was würden Sie sich als Ökonomin wünschen, sollten Sie im Alter einmal pflegebedürftig werden?
M. Hofmarcher-Holzhacker: Ich hätte gerne die Wahl - will ich zu Hause betreut werden und bekomme dort die Hilfe, die ich brauche, oder will ich in eine Einrichtung gehen? Ich würde mir auch wünschen, so viel wie möglich elektronisch erledigen zu können - und mindestens ein Mal am Tag umarmt zu werden!
Dank guter Versorgung werden wir immer älter - und bleiben oft länger pflegebedürftig. Wie lange kann sich Österreich dieses Pflegesystem noch leisten?
Das ist weniger eine Frage des Geldes als eine Frage der Prioritätensetzung. Die Politik muss sich in einer Frage dringend festlegen: Soll Pflege eine Staatsaufgabe sein? Und damit Pflegebedürftigkeit schlicht als Lebensrisiko angesehen werden? Solange diese Frage nicht geklärt ist, wird es auch für die Politik schwierig sein, mit dieser Vielzahl an Akteuren und Systemen umzugehen - bei steigendem Bedarf. Erst dann kann man über eine Neustrukturierung, die dieser Bereich dringend brauchen würde, sprechen. Und erst danach können und müssen wir über Wege der Finanzierung diskutieren. Und wir haben uns noch immer nicht daran gewöhnt, dass Pflege etwas Normales ist - und kein Ausnahmefall.
Und wenn die Politik sich nicht entscheiden will?
Dann bleibt das System so, wie es ist. Aber dann muss man auch Mängel und Mehrausgaben in Kauf nehmen. Und es besteht die Gefahr einer Unterversorgung. Grund dafür sind oft Abstimmungsprobleme - und da versickert dann auch Geld. Und wir haben bereits jetzt erhebliche Bundesländerunterschiede, was die gesunde Lebenserwartung betrifft. Eine Frau in Tirol kann darauf hoffen, dass sie 10 Jahre länger gesund ist als eine im Burgenland.
Aktuell scheint der Staat bei der Pflege erst abzuwarten, was die Angehörigen machen, bevor er sich zuständig fühlt.
So ist es. Er springt erst ein, wenn Pflege in der Familie nicht möglich ist. Natürlich betreibt der Staat trotzdem einen großen finanziellen Aufwand, indem Steuereinnahmen für Pflegegeld und Heime aufgewendet werden. Es ist also nicht so, dass der Staat gar nichts macht. Aber er führt aktuell eher im privaten Wohnzimmer sein Dasein. Und ich glaube, wir müssen ihn in ein grelleres Licht rücken. Und klar machen, dass es sich hier um eine wirklich zentrale Aufgabe handelt.
In der Diskussion um die Pflege werden oft zwei Dinge miteinander vermischt - die Pflege als Gesundheitsleistung (Stichwort Krankheit) und die Pflege als Sozialleistung (Stichwort Hilfe im Alter, 24-Stunden-Betreuung). Auf welchem Aspekt soll denn der Fokus liegen?
Das ist eine zentrale Frage. Aus meiner Sicht muss man diese Bereiche immer gemeinsam denken. Man darf nicht vergessen: Jeder, der eine Pflegeleistung wie jene der 24-Stunden-Pflege bekommt, war oder ist noch immer Bezieher von Gesundheitsleistungen. Denn auch wer im Alter noch relativ fit ist, geht zum Arzt oder braucht Medikamente. Man muss sich also die Person ansehen und überlegen: Welche Form der Betreuung braucht sie, und welche Form der medizinischen Hilfe? Deshalb bin ich für einen Ambulanztopf.
Wie soll dieser funktionieren?
Dabei würde man die finanziellen Mittel für die ambulante Versorgung, also für Spitäler, Haus- und Fachärzte und für die mobile Pflege, in einen Topf geben. Und Länder und Krankenversicherung könnten sich dann gemeinsam den Bedarf anschauen und dementsprechend die Mittel regionsspezifisch verteilen. Das wären circa sieben Milliarden Euro im Jahr, die man aus dem bestehenden Budget so zusammenführen könnte. Und das Geld würde dann nicht mehr einfach so herumgeschoben werden. Wenn der politische Wille dazu da ist, wäre das möglich. Denn ein Umbau der Finanzierung ist viel wichtiger als ein Umbau der Krankenkassen. Aber in den letzten 20 Jahren hatte ohnehin keine einzige Regierungskonstellation in Österreich eine Strategie und geeignete Persönlichkeit, die in der Lage gewesen wäre, das Gesundheitssystem anzugehen.
Warum ist das so? Ist das Thema Pflege schlicht nicht so „sexy“ wie Migration und Steuerentlastung?
Vielleicht. Dabei handelt es sich hier um eine Problemstellung, die sich mit den Jahren noch verschärfen wird. Man darf hier aber auch nicht zu grauslich zu den Politikern sein. Es handelt sich schließlich um ein hochkomplexes System.
Ein System mit vielen Akteuren, die bei jeder Änderung Machtverlust befürchten. Wären Sie Kanzlerin: Was wäre Ihre erste Pflege-Amtshandlung?
Das Wichtigste wäre, einen Prozess aufzusetzen - und eben all diese Akteure an einen Tisch zu versammeln, um eine Gesamtstrategie zu entwickeln. Und in genau diesem Prozess soll auch geklärt werden, ob Pflege eine Staatsaufgabe ist. Und dann muss man den Pflegebedarf abklären, damit man das Angebot planen kann. Auf dieser Basis kann ich mir die verschiedenen Dienstleister in diesem Bereich ansehen und so in das System eingreifen, dass diese nicht mehr isoliert voneinander agieren, sondern besser zusammenarbeiten. Dann schaue ich mir an, wie viel Personal ich künftig brauchen werde. Und so kann man das System Schritt für Schritt ändern. Aber dabei handelt es sich eben um ein aufwendiges Langzeitprojekt ...
... das deutlich länger als eine Amtszeit dauert. Schreckt die Politik deshalb davor zurück?
Man muss ja nicht bis 2060 planen, Langzeitprognosen in diesem Bereich sind, vor allem dank der rasanten technologischen Entwicklung, ohnehin schwierig. Aber mittelfristig - also für die nächsten zehn Jahre - kann und sollte man planen. Das ist dann auch keine so lange Zeitspanne, dass man mit den Achseln zucken und sagen könnte: „Auf lange Sicht sind wir eh alle tot.“ Da muss man die Politiker schon bei der Ehre packen, damit dieses wichtige Thema angegangen wird. Und die Wähler spüren, ob ein Politiker hier nur daherredet oder ob es um wirkliche Pläne geht.
Wie könnten solche „wirklichen Pläne“ gelingen?
Man muss die Schranken im eigenen Kopf aufmachen. Warum kann man beispielsweise nicht organisieren, dass Pflegepersonal, das in Heimen arbeitet, in die Region ausschwärmt, um zu schauen, ob Pflegebedürftigkeit bei den Menschen besteht? Man sollte manches einfach neu denken. Aber die Pflegeberufe müssen auch deutlich attraktiver gemacht werden. Das wird sich nicht verhindern lassen.
Könnte die Qualität unserer Pflege irgendwann davon abhängen, wie viel eigenes Geld wir dafür bereitstellen können oder wollen? Quasi eine Entwicklung von der Finanzierung von Pflege als Sozialleistung hin zu einer Art privater Vorsorge.
Das glaube ich nicht, der Zulauf bei privaten Pflegeversicherungen hält sich in Grenzen. Pflege soll aus meiner Sicht auf jeden Fall durch Steuergeld finanziert werden. So kann eine Versorgung gewährleistet werden. Ob das jetzt über Solidarabgabe, Millionärssteuer oder Erbschaftsteuer kommt, ist meiner Ansicht nach zweitrangig. Wichtiger ist, dass es, wie eingangs erwähnt, als Staatsziel definiert wird. Wie die Finanzierung dann genau erfolgt, ist eine politische Entscheidung.