Es war im Jahr 2003, als Brigitte Bierlein Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes wurde. Als sich die erste Landeshauptfrau Österreichs und die erste Vizepräsidentin des VfGH bei Bierleins Antrittsbesuch in der Steiermark zum ersten Mal trafen, war frau sich auf Anhieb sympathisch.
Sieben Jahre später wurde Waltraud Klasnic zur Opferbeauftragten der katholischen Kirche. Sie war schon lange nicht mehr Landeshauptfrau. Bierlein wusste noch lange nicht, dass sie es einmal zur Kanzlerin bringen sollte. Im Verfassungsgerichtshof hatte sie sich innerhalb kürzester Zeit einen Namen gemacht. Als Klasnic rief, war sie bereit, in der Klasnic-Kommission mitzuwirken.
Im April 2019 war sie immer noch Mitglied dieser Kommission. Und sie nahm die Erfahrungen mit in die Staatsoper, in die Sonderkommission Ballettakademie. Andere Baustelle, gleiche Mission: für die Beseitigung von Missständen in einer Organisation zu sorgen, ohne die Institution selbst irreparabel zu beschädigen.
Jeden der rund 2000 Akte der Klasnic-Kommission hat sie gelesen, berichtet ein Insider. Perfekt vorbereitet, im Kleinen wie im Großen. Als Staatsanwältin hatte sie 1977 in Wien angefangen, milde belächelt vom beherrschenden Geschlecht. Innerhalb kürzester Zeit war den Herren das Lächeln aus dem Gesicht gewichen: Mit akribischem Fleiß arbeitete sie sich zum Erfolg.
Die Oberstaatsanwaltschaft, die Generalprokuratur beim OGH waren die nächsten Stationen. 2001 wurde sie Präsidentin der Staatsanwälte-Vereinigung, 2003 Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs: Sie, die Strafrechtlerin, machte sich auf, die Verfassungsrechtsexperten zu dirigieren. Auch hier dauerte es nicht lang, bis sie die Skeptiker kraft Kompetenz verstummen ließ.
Glanz und Bescheidenheit
Dabei ist die Bescheidenheit ihr Programm, sinniert ein Kollege. Nie spielt sie sich selbst in den Vordergrund, unangenehm ist es ihr, sich in den Medien zu „verkaufen“. Die jüngste Empfehlung an die Mitglieder der Übergangsregierung, sich „in Bescheidenheit“ und gegenüber Journalisten „in Zurückhaltung zu üben“, entspricht ihrem ganz persönlichen Stil. Als VfGH-Präsidentin hat sie es bis zuletzt abgelehnt, Einladungen in die ORF-„Pressestunde“ oder in die ZiB 2 anzunehmen.
Ein merkwürdiger Gegensatz zu ihrem „Auftritt“: Stilsicher, kultiviert, elegant, Exotin in einer Männerwelt, die nicht mit den Mitteln einer Frau betört, sondern deren Energie und Ausstrahlung Männern wie Frauen den Atem raubt.
Erst jetzt, wo sie geht, merke ich, was ich an ihr gehabt habe“, sagt ein Wegbegleiter im Verfassungsgerichtshof. Unprätentiös, humorvoll, mutig, aber immer auf den Ausgleich bedacht – so wird sie beschrieben. Der Klasnic-Vertraute Herwig Hösele wurde Bundesratspräsident just in dem Jahr, in dem Bierlein im VfGH Anker setzte. „Wir sind einander dann öfter begegnet. Die Gespräche waren nie oberflächlich, immer wollte sie den Dingen auf den Grund gehen.“
Loyalität nach außen, Klartext nach innen
Nie ließ sie nach außen hin Zweifel an der Institution oder ihren Vertretern aufkommen. Nach innen hin sprach sie eine klare Sprache, wenn es etwa um die Befangenheitsregeln ging, denen sich Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter nach seinem unüblich raschen Wechsel von der Politik in den VfGH unterwerfen musste.
Ihr Netzwerk, das sind die Staatsanwälte, die Richter, die Justiz. Im Schutz der Behörde erarbeitete sie sich ihren Ruf, das Amt der Vizepräsidentin, ab 2018 jenes der Präsidentin verschafften ihr Präsenz in der Wirtschaft, in der Politik. Konsequent entzog sie sich allen Versuchen, sich einen politischen Stempel aufdrücken zu lassen.
Ja, sie sei konservativ-liberal, sagen die, die sie kennen. Aber in vielen gesellschaftspolitischen Fragen mehr liberal als konservativ. Nach der Entscheidung für die Ehe für alle durch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs sagte sie in einem Interview: „Möglicherweise war der Gesetzgeber erleichtert, dass wir ihm diese Entscheidung abgenommen haben.“
Als sie Präsidentin wurde, bezeichnete SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim sie als „reaktionär“. Eine Einschätzung, die er revidieren musste, wie er dieser Tage dem „Kurier“ verriet: „Ich habe selten eine so korrekte Persönlichkeit erlebt.“
Sie geht einen geraden Weg. Wenn sie das Kopftuchverbot als „problematisch“ erachtet, wenig hält von einer Verschärfung des Strafrechts, dann argumentiert sie sachlich, nicht politisch. Dass das Vertreter von ÖVP, FPÖ und SPÖ bestätigen, spricht für sich.
Privates bleibt privat
Über ihr Privatleben ist kaum etwas bekannt. Skifahren und Segeln, das sind ihre Hobbys, das tägliche Joggen ihre „Medizin“. Lebensgefährte Ernest Maurer, ein ehemaliger Richter, ist in der Öffentlichkeit nicht präsent. „Dieses Verschwinden des Privatlebens, es ist wie ein Graben vor der Burg“, sucht der Kollege nach einem Bild. Nicht einmal engste Mitarbeiter können von sich behaupten, privat auch nur zum Essen ausgegangen zu sein mit ihr.
Im Februar 2018 wurde Brigitte Bierlein Verfassungsgerichtshofpräsidentin. Nur eineinhalb Jahre später wollte es das Schicksal, dass sie zur ersten Staatschefin der Republik gekrönt wurde. Bisher war „die Kanzlerin“ Deutschland vorbehalten. Mit der Bestellung Bierleins geht die weibliche Form der Chefposition auf ganz natürliche Weise auch in den österreichischen Sprachgebrauch ein.
Am 25. Juni wird die Kanzlerin 70. Für das Regierungsamt legte sie die Präsidentenfunktion nieder, nach der Wahl wechselt sie in den Ruhestand. Es ist Brigitte Bierleins aufregendstes halbes Jahr im Dienste der Republik.
Claudia Gigler