MICHAEL FLEISCHHACKER: Ob die SPÖ den jungen Kanzler, ihren liebsten Feind, stürzen oder stützen soll, kann ich nicht sagen, weil das Sollen keine Kategorie der Analyse, aber des Aktivismus ist, und der liegt mir fern. Wenn ich es richtig verstehe, lautet das wichtigste Argument gegen den Misstrauensantrag: Eine reine Expertenregierung, vom Bundespräsidenten eingesetzt, würde die Regierungskrise zur Staatskrise machen. Dieses Argument halte ich für eher schwach. Das wichtigste Argument für den Misstrauensantrag geht so: Warum sollte die Opposition einem Kanzler, der mit seiner riskanten Koalition gescheitert ist, als Belohnung für sein Scheitern einen Wahlkampf als Chef einer De-facto-Alleinregierung schenken? Dieses Argument erscheint mir sehr plausibel. Was beim Wähler erfolgversprechender ist, weiß ich allerdings nicht, und nur darauf kommt es an, das Gerede von der Staatskrise im Fall eines erfolgreichen Misstrauensvotums ist reiner Quatsch.

ARMIN THURNHER: Oh weh, lieber Fleischhacker, das gibt keinen Streit! Wir werden nach Reibungs-Nuancen suchen müssen, was uns gewiss nicht schwerfallen wird. Sie haben natürlich recht. Ich würde es sogar so formulieren: Eine Expertenregierung ist unerlässlich, um die Forderung des Bundespräsidenten nach Stabilität und Ruhe zu erfüllen. Eine ÖVP-Alleinregierung, wie sie uns Sebastian Kurz nun trotz teilweise respektabelster Experten präsentiert hat, würde in einem Wahlkampf nur für Unruhe, Ressentiments und Aufregung sorgen, weil der ÖVP die komplette Werbe- und PR-Power der Regierung Kurz – das Eindrucksvollste an dieser Veranstaltung – zur Verfügung steht. Wer den Bundespräsidenten ernst nimmt, muss also im Parlament dem Misstrauensantrag zustimmen und die Regierung Kurz II abwählen.



FLEISCHHACKER: Sie sind natürlich eher der Soll- und Müssen-Mann. Aber stabil im Sinne des Bundespräsidenten wäre natürlich auch das derzeit amtierende Kabinett Kurz II, und ein zusätzliches Argument für seinen Verbleib wäre, dass in den unmittelbar bevorstehenden Entscheidungen in den EU-Institutionen ein Kanzler, der die Akteure kennt, mehr Gewicht hätte als ein dezidiert unpolitischer Republiksverweser. Aber auch dieser Unterschied würde uns wohl nicht ins Verderben stürzen. Nein, überlegen würde ich mir als SPÖ vor allem, ob es Wege geben könnte, Kurz nicht zum Märtyrer zu machen, sondern ihn inhaltlich herauszufordern in Parlament und Öffentlichkeit. Der Sturz eines so populären Kanzlers kann sich auch gegen den Urheber wenden, wenn der so kommunikationsunbegabt ist wie die amtierende SPÖ-Führung.



THURNHER: Gegen eine kommunikativ herausgeforderte SPÖ-Führung wendet sich alles, was sie unternimmt. Wählt sie Kurz ab, verliert sie die Gunst des Publikums und jene des zukünftigen Kanzlers, der dann nicht mehr mit ihr koaliert. Die hatte sie jedoch nie und wird sie nie haben. Wählt sie Kurz nicht ab, straft sie die Geschichte. Aber eine kommunikative Monobegabung wie Kurz ist auch nur eine Variante des politischen Desasters, nämlich der Selbstauslieferung von Politik an Kommunikation. Ich denke, der kommunikative Vorteil des Krisenkanzlers, so zu tun, als beherrsche er souverän die Krise, könnte sich in den Nachteil des Krisenkanzlers verwandeln, dass man bemerkt, er war es, der uns die Krise eingebrockt hat. Sebastian Kurz wird es aber schaffen, als Opfer des Schlamassels dazustehen, das er verursacht hat: durch Bildung einer Regierung mit der FPÖ, durch gleichgültiges Zusehen bei deren Treiben und durch katastrophales Krisenmanagement am Ende. Ein Meister der Kommunikation eben.

Armin Thurnher, Gründer und  Herausgeber der Wiener Stadtzeitung „Falter“, Autor von Essays, Romanen und Kochbüchern, Musik-, Diskurs- und überhaupt Liebhaber
Armin Thurnher, Gründer und Herausgeber der Wiener Stadtzeitung „Falter“, Autor von Essays, Romanen und Kochbüchern, Musik-, Diskurs- und überhaupt Liebhaber © ORF



FLEISCHHACKER: Die Geschichte straft nicht, lieber Thurnher, sie ereignet sich. Und ich glaube, Sie unterschätzen den jungen Kanzler, wenn Sie sagen, dass es sich bei ihm um eine kommunikative Monobegabung handelt. Ich würde auch sagen, dass die Darstellung, dass er nur ein Opfer der Umstände ist, nicht die ganze Wirklichkeit abbildet, aber die Behauptung, er sei für die Katastrophe einschließlich der charakterlichen Defizite der Herren Strache und Gudenus verantwortlich, ist eben auch eine unzulässige Übertreibung. Er ist mit dieser Koalition ein Risiko eingegangen, und zwar zu Recht, wie ich meine, weil die Fortsetzung einer rot-schwarzen Koalition in Gestalt einer schwarz-roten Koalition dem Land nicht besser getan hätte, eher im Gegenteil. So werden wir also sehen, zu welchem Ende die taktischen Überlegungen der SPÖ – und auch der FPÖ, wer weiß, ob die sich nicht auch noch umentscheidet, weil ihre Klientel den Kanzler noch mehr schätzt als jene der Sozialdemokraten – führen. Es wird weder an der politischen Stabilität etwas ändern noch am Ausgang der Wahlen im frühen Herbst.

Michael Fleischhacker, nach Stationen bei der Kleinen Zeitung und beim „Standard“ 2004 bis 2012 Chefredakteur der „Presse“, heute freies Radikal
Michael Fleischhacker, nach Stationen bei der Kleinen Zeitung und beim „Standard“ 2004 bis 2012 Chefredakteur der „Presse“, heute freies Radikal © APA/HANS PUNZ



THURNHER: Ganz richtig, Sebastian Kurz wollen wir nicht unterschätzen. Er hat gewiss noch viele andere Begabungen, die sich uns momentan nur nicht offenbaren. Dennoch darf ich Sie an Schillers Wort „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ erinnern. Kurz hat uns die FPÖ-Suppe beschert, und ich sehe nicht ein, warum er sie nun nicht auslöffeln, sondern dafür die vier Monate bis zur Wahl mit einer von ihm beherrschten ÖVP-Alleinregierung belohnt werden soll. Am Ende von Schillers Gedicht „Resignation“ heißt es übrigens, „was man von der Minute ausgeschlagen / gibt keine Ewigkeit zurück“. Wenn SPÖ und FPÖ also dem Schmäh mit der Stabilität auf den Leim gehen und den Misstrauensantrag ablehnen, ist unfairer politischer Wettbewerb bis zur Wahl garantiert.

FLEISCHHACKER: Das mag sogar stimmen, vom Gipfel des politischen Moralgebirges aus gesehen. Aber in den Niederungen der politischen Wahlkampfebene entscheidet nicht idiosynkratisches Fairnessverständnis, sondern massentaugliche Erfolgsaussicht. Und da wäre ich dann etwas vorsichtiger mit meinen Empfehlungen. Lassen Sie es mich so sagen: Dass man wirklich das eine will – sagen wir ruhig Fairness dazu – oder das andere – Erfolg nämlich –, birgt in jedem Fall ein gewisses Risiko. Dass man nicht weiß, was man wollen soll, garantiert hingegen die Niederlage. Und deshalb sehe ich nicht, wie die Sozialdemokraten diese Wahl gewinnen sollen, egal, ob der Kanzler während der nächsten Monate Sebastian Kurz heißt oder Hofrat Wurzelbrunst.

THURNHER: Endlich kommen Sie mit der Moral! Wissen Sie, manchmal bringt in der Politik nicht taktische Spekulation den Erfolg, sondern dass man etwas tut, was man für richtig hält. Dem Kanzler nicht das Misstrauen auszusprechen, weil man denkt, das stärke ihn in seiner Opferrolle vor der Wahl und mindere eigene Koalitionsaussichten danach, ist nur kläglich. Kläglichkeit macht sich bei Wahlen selten bezahlt. Hofrat Wurzelbrunst gehört übrigens meine Sympathie, denn er hat die Republik nicht aus Machtkalkül der FPÖ ausgeliefert.

FLEISCHHACKER: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, lieber Thurnher. Man kann natürlich aus moralischen Gründen auf den Erfolg verzichten, aber was das den Menschen bringen soll, für die man angeblich selbstlos kämpft, konnte mir noch niemand erklären. Mir scheint, unter den Selbstlosen sind immer noch zu viele, die kein Selbst haben, das sie loswerden könnten.

THURNHER: Das haben Sie schön formuliert. Könnte man im Vorzimmer all der Ich-AGs aufhängen, zu denen auch Kanzler Kurz zählt. Ich plädiere gegen Mutlosigkeit, nicht für Erfolgsverzicht. Selbsterkenntnis betrachte ich als Voraussetzung für politischen Erfolg. Darauf könnten wir uns am Ende vielleicht einigen.