Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende: Nach stundenlangen Beratungen über die Konsequenzen aus dem fatalen Ibiza-Ausflug des Vizekanzlers hat sich Bundeskanzler Sebastian Kurz gestern für die radikalere Option entschieden und die Reißleine gezogen. Eine Viertelstunde nach Beginn der „Zeit im Bild“ - übrigens wie schon vor zwei Jahren bei Übernahme der ÖVP - trat er im Steinsaal des Kanzleramts mit den Worten „Genug ist genug!“ vor die Medien. Es sei ihm in den letzten Monaten „schwergefallen“, die freiheitlichen Ausrutscher „herunterzuschlucken“. Um hinzuzufügen: „Die FPÖ kann es nicht.“ Deshalb plädiere er für „vorgezogene Neuwahlen“.
Knapp darauf trat Bundespräsident Alexander Van der Bellen in der Hofburg vor die Öffentlichkeit. Die „beschämenden Bilder“ aus dem Video, in dem der Vizekanzler seine politischen Dienste für russische Oligarchengeschäfte anbot, zeigten ein „verstörendes Sittenbild“ und seien Ausfluss einer „dreisten Respektlosigkeit“. Eine solche „Respektlosigkeit toleriere ich nicht“. Es bedürfe einer „schonungslosen Aufklärung durch die Justiz und die Exekutive“. Österreich brauche einen „Neuaufbau des Vertrauens. Ein Neuaufbau geht nur über Neuwahlen.“
Wann wird gewählt? 22. September realistischer Termin
Was das konkret bedeutet, ob neben dem Vizekanzler auch Innenminister Herbert Kickl den Hut nehmen muss, steht in den Sternen. Auf Ibiza wurden auch Wege zur illegalen Parteienfinanzierung erörtert, der Generalsekretär der FPÖ hieß damals Herbert Kickl.
Wann die Österreicher zu den Wahlurnen gebeten werden, soll schon in den nächsten Tagen geklärt werden. Der frühestmögliche Termin wäre Mitte Juli, in der Hochphase der Sommerferien. Nach Informationen der Kleinen Zeitung ist der 22. September in der engeren Auswahl - gleichzeitig mit den Landtagswahlen in Vorarlberg. Ob sich auch die Steiermark einem möglichen Superwahlsonntag anschließt, ließ Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer gestern offen.
In die Luft gesprengt
Nach etwas mehr als 500 Tagen ist das türkis-blaue Experiment Geschichte. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der Übernahme der Regentschaft in der Volkspartei geht Kurz wieder in Neuwahlen, diesmal folgt er dem Beispiel von Wolfgang Schüssel, der 2002 vor einer ähnlichen Situation stand.
Das Wochenende markiert eine tiefe Zäsur in der Innenpolitik. Zum zweiten Mal - nach Jörg Haider 2002 - hat sich das Dritte Lager selbst in die Luft gesprengt, diesmal unter anderen Begleiterscheinungen. Nach 14 Jahren ist Heinz-Christian Strache als aktuell dienstältester Parteichef von der innenpolitischen Bühne abgetreten, drei Wochen vor seinem 50. Geburtstag. Ob sich die Freiheitlichen jemals vom Schock erholen werden, wird sich weisen.
Wer mit wem? Partnersuche wird schwierig
Freitagabend hieß es im Kanzleramt, Kurz wisse sehr genau, was er wolle. Diesen Eindruck hatte man gestern nicht unbedingt. Wie ein Strudelteig zogen sich die Beratungen im Kanzleramt. Kurz hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera - weiter mit der FPÖ mit dem Risiko, dass neue Videos oder Einzelfälle auftauchen. Oder Neuwahlen. Ob Neuwahlen automatisch eine stabile Regierung zutage fördern, ist ungewiss.
Ein Schulterschluss mit der SPÖ - unter einer Vizekanzlerin Pamela Rendi-Wagner oder unter Hans Peter Doskozil - birgt das Risiko, dass die alten Heckenschützen, die bereits frühere Große Koalitionen auf dem Gewissen haben, wieder aktiv werden. Und wäre auch für die SPÖ nicht möglich gewesen:
Eine Koalition mit einer dramatisch zurechtgestutzten, womöglich nicht erneuerten FPÖ ist die zweite Variante. Kurz setzt darauf, dass er bei Neuwahlen das rechte Lager abräumt. Ob sich eine Zweierkoalition mit den Neos ausgeht, ist fraglich. Eine Dreierkoalition mit Neos und den Grünen wäre ein ungewöhnliches Experiment, die Türkisen müssten einige Positionierungen über Bord werfen. Jede Option ist mit Unwägbarkeit belastet.