Ende Juli 1954 berichtete mein Vater zu Hause beim gemeinsamen Abendessen, dass er am 2. August 1954 von Bundespräsident Theodor Körner zum Staatssekretär im Ministerium für Handel und Wiederaufbau ernannt werden wird. Es war dies die Regierung mit Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und Bruno Kreisky als Staatssekretär im Außenministerium.
Ich war damals 16 Jahre alt, Mitglied im Verband der sozialistischen Mittelschüler und sehr an Politik interessiert. Von da an hatte ich einen verstärkten Dialog mit meinem Vater über politische Ereignisse und Entwicklungen.
Eines der Themen, das von Zeit zu Zeit zur Sprache kam, war die „unendliche Geschichte“ über den Abschluss eines österreichischen Staatsvertrages und den damit verbundenen Abzug der ausländischen Besatzungssoldaten. So sehr die überwältigende Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher gejubelt hatte, als im April und Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, die Nazi-Diktatur in Trümmern lag und am 27. April 1945 die Wiedererrichtung eines selbstständigen und demokratischen Österreichs verkündet wurde, so sehr begann die Bevölkerung im Laufe der Jahre immer mehr unter der Last der vierfachen Besatzung durch Russen, Amerikaner, Briten und Franzosen zu leiden und ungeduldig zu werden.
Die verballhornte Bundeshymne
Unsere schöne Bundeshymne („Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome …“) wurde immer häufiger – auf die mangelhafte Ernährungssituation und auf Übergriffe von Besatzungssoldaten anspielend – mit einem ironischen Text gesungen: „Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der alliierten Zonen, Land der unbekannten Fremden, die uns auszieh’n bis auf d’Hemden ...“.
Aber eines Tages im Feber 1955 erzählte mein Vater, dass der sowjetische Außenminister Molotow eine Rede gehalten habe, aus der man auf eine Änderung in der Haltung der Sowjetunion zum österreichischen Staatsvertrag schließen könnte. Da es aber zum Thema Staatsvertrag schon mehrere angebliche „Hoffnungsschimmer“ gegeben hatte, die immer wieder enttäuscht wurden, ist diese Rede zunächst mit einer Portion Skepsis aufgenommen worden. Aber diesmal sollte es mehr als nur ein Hoffnungsschimmer sein.
Im März 1953 war Stalin nach vier Jahrzehnten an der Macht gestorben. Der Machtkampf um die Nachfolge zwischen dem so wie Stalin aus Georgien stammenden Sicherheitschef Lawrenti Beria und dem aus der Ukraine stammenden Nikita Chruschtschow war erbittert und brutal: Beria wurde im Dezember 1953 liquidiert und das Duo Chruschtschow und Bulganin kam an die Spitze der Sowjetunion, ehe es Chruschtschow gelang, allein die Spitze der Machtpyramide zu erobern.
Tito hatte kein Mitspracherecht mehr
Anfang 1955 wollte Chruschtschow – und mit ihm das Politbüro – offenbar der Welt signalisieren, dass die neue sowjetische Führung gesprächsbereiter und flexibler ist als das alte stalinistische Führungsteam. Die seit Kriegsende ungelöste Frage des österreichischen Staatsvertrages schien als Testfall geeignet.
Dazu kam, dass die Sowjetunion seit dem Bruch zwischen Tito und Stalin nicht mehr auf Jugoslawien bei den Staatsvertragsverhandlungen Rücksicht nehmen musste. Am 24. März 1955 erhielt die österreichische Bundesregierung aus Moskau die Einladung, eine Regierungsdelegation nach Moskau zu entsenden, um über den Staatsvertrag zu verhandeln.
Bruno Kreisky hat oft erzählt, dass mit dieser Einladung noch keine wirkliche Klarheit über die weitere Entwicklung geschaffen war: Sollte man optimistisch sein und eine möglichst hochrangige Delegation nach Moskau entsenden, in der die höchsten Regierungsfunktionäre und damit auch die höchsten Exponenten der beiden Koalitionsparteien vertreten sind, oder sollte man vorsichtiger sein und zunächst eine noch nicht höchstrangige Delegation entsenden, um allenfalls noch eine „Steigerungsstufe“ zu ermöglichen, falls der erste Anlauf in Moskau noch keinen Erfolg bringen sollte?
Besuche bei der sowjetischen Nachrichtenagentur
Wie man weiß, ging die Regierung „aufs Ganze“ und wollte das Eisen schmieden, solange es heiß war, indem Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky am 11. April 1955 nach Moskau reisten. Die vier Tage in Moskau vom 11. bis 14. April sollten als Heldenepos in die österreichische Zeitgeschichte eingehen.
Zunächst aber erfuhr man in Wien noch sehr wenig. Ich verfolgte gespannt die Berichterstattung über die Verhandlungen in Moskau in den Medien und ging sogar mehrmals in das Büro der sowjetischen Nachrichten-Agentur TASS, im sogenannten Trattnerhof im 1. Wiener Gemeindebezirk, um möglichst authentische Nachrichten zu erhalten. Aber daraus wurde ich nicht wirklich klug und auch mein Vater konnte mir nichts Präziseres berichten.
Als die österreichische Regierungsdelegation am 14. April 1955 auf einem kleinen Flugplatz bei Bad Vöslau in einem klapprigen russischen Flugzeug landete, herrschte schon große Zuversicht, obwohl noch einige Hürden bis zur Fertigstellung eines endgültigen Textes für den Staatsvertrag zu nehmen waren. Aber die Grundlage für das Heldenepos namens „Staatsvertragsverhandlungen“ war bereits geschaffen, einschließlich der immer bunter werdenden Erzählungen über die Trinkfestigkeit und die Sangeskünste der österreichischen Delegation. Chruschtschow und Molotow, die beide an den Verbrechen der Stalinära nicht unwesentlich beteiligt waren, aber auch unter Stalin gelitten und seine Repressionen gefürchtet hatten, erschienen jetzt wie die freundlichen Onkel in Moskau ...
Parade der Dienstkarossen vor dem Belvedere
Bald darauf wurde für Anfang Mai eine Botschafterkonferenz nach Wien einberufen, wo zwischen den Vertretern der alliierten Mächte und Österreich erfolgreich über die letzten offenen Fragen verhandelt wurde. Am Dienstag, dem 10. Mai 1955, befasste sich der österreichische Ministerrat mit dem erfolgreichen Abschluss der Botschafterkonferenz, sodass der Unterzeichnung des Staatsvertrages am Sonntag, dem 15. Mai, nichts mehr im Wege stand.
Als mir mein Vater erzählte, dass die gesamte österreichische Bundesregierung – also auch er – bei der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Oberen Belvedere anwesend sein wird, entschloss ich mich, mit dem Fahrrad ebenfalls zum Belvedere zu fahren und mir die Auffahrt der Außenminister und der österreichischen Regierungsmitglieder anzusehen.
Die Zeremonie am 15. Mai war für 11 Uhr anberaumt. Schon eine Viertelstunde früher kam Außenminister Leopold Figl. Kurz nach ihm Bundeskanzler Julius Raab in einem schwarzen amerikanischen Chevrolet mit dem Dienstwagen-Kennzeichen W1. Der russische Außenminister Molotow hatte das größte oder zumindest das längste Auto, nämlich eine russische SIS-Limousine. Der britische Außenminister und spätere Ministerpräsident Harold Mcmillan kam in Begleitung eines Offiziers im Schottenrock. Und der französische Außenminister, Antoine Pinay, hatte den elegantesten Chauffeur mit Tellerkappe und weißen Handschuhen. Der Mächtigste von allen, der amerikanische Außenminister John F. Dulles, ging die letzten Schritte in einem Schwarm von Sicherheitsbeamten zu Fuß. Alles in allem hat die Zeremonie etwa eine Stunde gedauert.
Nichts davon aufs Spiel setzen
Die Tatsache, dass der unterzeichnete Staatsvertrag dann von Außenminister Figl in Anwesenheit der vier anderen Außenminister und führender Regierungsmitglieder vom Balkon des Belvederes der begeisterten Menge gezeigt wurde, war für das Publikum der Höhepunkt dieser Zeremonie. Ich war stolz und beeindruckt und hatte eine Gänsehaut.
Heute sind das für mich Bilder aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Die Tatsache, dass seit damals genau 64 Jahre vergangen sind, bedeutet, dass von der Unterzeichnung des Staatsvertrages bis heute fast gleich viel Zeit vergangen ist wie von der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in Hainfeld (1899) bis zum Abschluss des Staatsvertrages oder vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Ende der Regierungszeit von Bruno Kreisky.
Umso mehr sollte geschätzt und anerkannt werden, welche Leistung es darstellt, dass sich Österreich in den Jahrzehnten seit dem Abschluss des Staatsvertrages so erfolgreich, vernünftig, friedlich und die Lehren aus der Geschichte berücksichtigend entwickelt hat.
Nichts davon sollten wir aufs Spiel setzen.
Heinz Fischer