Neunzig Prozent der Politik ist Inszenierung, meinte einst ein SPÖ-Chef, der vor einem Jahr noch auf dem Wiener Rathausplatz bejubelt wurde. Die Kunst der Inszenierung hat die türkis-blaue Regierung zur Perfektion gebracht. Ob es Chuzpe ist oder ein genialer Schachzug, sei dahingestellt: Am 1. Mai, am höchsten Feiertag der SPÖ, schlüpft die Koalition in die Rolle des „Partycrashers“. Und ausgerechnet noch am 100. Geburtstag des roten Wien, der am 4. Mai begangen wird.
Traditionellerweise versammeln sich in den frühen Morgenstunden des 1. Mai in den Wiener Bezirken die roten Sektionen, um in einem großen Sternmarsch mit Musik- und anderer Begleitung in die Innenstadt zu ziehen. Im heurigen Jahr bekommen die Sozialdemokraten aber Konkurrenz: Um acht Uhr früh bereits kommt die Bundesregierung im Kanzleramt zum Ministerrat zusammen. In einer kurzen Sitzung soll die Steuerreform beschlossen werden.
Dass beides zeitgleich stattfindet, ist nicht bloß Ausdruck einer Provokation. SPÖ und FPÖ fischen im selben Wählersegment, die Geringverdiener wählen vielfach entweder SPÖ oder FPÖ. In einem ersten Schritt will die Regierung mit Jänner 2020 die untersten Einkommen, also jene, die weniger als 1100 Euro verdienen und keine Steuern zahlen, entlasten. Rund zwei Millionen Österreicher sollen künftig weniger oder gar keine Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Ab 2021 sind dann der Mittelstand sowie die Wirtschaft an der Reihe. Alle Details wollen Kanzler und Vizekanzler, sekundiert von den Architekten der Steuerreform, Finanzminister Hartwig Löger und Staatssekretär Hubert Fuchs, am Dienstag der Öffentlichkeit vorstellen.
Ein weiteres Detail sickerte gestern durch: Das Paket sieht auch den Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung vor. So sollen Begünstigungen für Mitarbeitererfolgsbeteiligungen in Höhe von maximal zehn Prozent des Gewinns und im Ausmaß von jährlich bis zu 3000 Euro pro Arbeitnehmer eingeführt werden. Löger und Fuchs erklären dazu, damit könnten „erstmals Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens partizipieren“.
Aus Sicht der Regierung zählt die geplante Entlastung ohnehin zur bisher größten Steuerreform des Jahrhunderts. Sie rechnet vor, dass Karl-Heinz Grassers „größte Steuerreform der Zweiten Republik“ netto 3,05 Milliarden brachte, Faymanns erste Entlastung 3,06 Milliarden (2009/2010) und Faymanns zweite Entlastung 2,5 Milliarden (2015). Alle drei Reformen hätten ein größeres Volumen ausgewiesen, wegen der Gegenfinanzierung auch durch höhere oder neue Steuern sei aber weniger übrig geblieben.
Pamela Rendi-Wagner begeht am Mittwoch ihren ersten 1. Mai als Parteichefin. Sie wird nach Bürgermeister Michael Ludwig, AK-Chefin Renate Anderl und EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder das Wort auf dem Rathausplatz ergreifen.