Auf dem SPÖ-Parteitag in Wels erhielten Sie den längsten Applaus aller Ehrengäste. War das die rückwärtsgewandte Sehnsucht in dunkler Nacht?
FRANZ VRANITZKY: In erster Linie habe ich mich darüber gefreut. Es waren ja viele Junge dort, die mich in meiner Amtszeit nicht mehr erlebt haben. Das Echo des Parteitags war emotional sehr positiv, aber jetzt muss man politisch etwas draus machen. Die SPÖ ist eine traditionsreiche Partei, aber angesichts der heutigen Herausforderungen nützt es nichts, die Vergangenheit zu heroisieren. Man muss die nächste Etappe einer politischen Präsenz und Wirksamkeit herstellen.
Was heißt das konkret?
Die Partei wäre gut beraten, mit der Wiederherstellung einer schlagkräftigen Organisation zu beginnen. In der heutigen Zeit muss Kommunikation auf Knopfdruck funktionieren. Das beginnt in der Parteizentrale in der Löwelstrasse. Und man muss auch die Länderorganisationen wieder aufbauen, von denen manche in der Wählergunst stark zurückgefallen sind.
Wieso tat sich die SPÖ im letzten Jahr so schwer, ihre Rolle zu finden?
Die SPÖ ist durch das Ausscheiden aus der Regierung und durch die eine oder andere innerparteiliche Entwicklung einigermaßen außer Tritt gekommen und durchgeschüttelt worden. Das geht nicht spurlos vorbei, da leidet auch die Schlagkraft. Ich habe festgestellt, dass rein atmosphärisch das Zusammengehörigkeitsgefühl – zum Beispiel von Bundespartei und Landesparteien – mühsamer erkämpft werden musste als in Normalzeiten. Auch der Bürgermeisterwechsel in Wien ist ja nicht so glatt und reibungslos gegangen: Es gab zwei Kandidaten, was ein Novum war. Und schon der Abgang von Werner Faymann 2016 war nicht etwas, wo man sagt, die Welt ist heil und in Ordnung.
Das waren traumatische Erfahrungen.
Ja, auch für mich persönlich. Ich bin damals am 1. Mai 2016 auf dem Rathausplatz gestanden. Das ist immer ein hohes Fest der Sozialdemokratie gewesen. Und auf einmal kommen da diese unqualifizierten und nicht akzeptablen Beschimpfungen. Das war nicht in Ordnung. Diese Erfahrung hätte ich mir lieber erspart.
Wie erklären Sie sich die erstaunliche Stabilität der neuen Regierung nach einem Jahr?
Die Migrationsfrage hilft den Regierenden. Sie haben in der restriktiven Einstellung kaum Meinungsunterschiede.
Hilft da auch die unklare Haltung der SPÖ?
Es könnte sein, dass der so genannte Zug der Zeit sehr restriktiv gegenüber den Wanderungsbewegungen sein möchte. Die SPÖ hat sich diesem Zug der Zeit nicht angeschlossen. Dem Christian Kern ging es ein bisserl so wie der Frau Merkel in Deutschland.
Sie haben gesagt: So wie Christian Kern kann man nicht abtreten.
Ja, das war unglücklich.
Wie haben Sie jetzt seinen Abschied auf dem Parteitag empfunden?
Er hat die Chance des Rednerpults genützt.
Ist Kern in Summe unter seinem Wert geschlagen worden?
Ja, ich glaube schon. Er hat im Zugang zu den Entwicklungen der Zeit – Globalisierung, Digitalisierung, Roboterisierung – die zutreffenden Positionen vertreten. Aber es ist ihm im Wahlkampf schlecht gegangen. Er hat zwar dem Parteitag gesagt, er lasse sich nicht einreden, dass er schlechte Berater hatte. Aber mir kann er das nicht einreden. Für den Herrn Silberstein kann man nicht eintreten. Da hat er mir auch leid getan. In der Hektik des Wahlkampfs kommen dann Trümmer durch die Luft geflogen, die einen treffen, ohne dass man darauf vorbereitet ist.
Wo schätzen Sie Pamela Rendi-Wagner stärker ein? Wo hat sie ihre Vorzüge?
Sie besticht sicher durch die Natürlichkeit ihres Auftretens. Abgesehen davon, dass sie eine attraktive Frau ist, hat sie eine gewinnende Unbekümmertheit, die sich positiv entwickeln kann. Auch wenn sie in Wels ein glanzvolles Ergebnis erzielt hat: Die Männerwelt ist deshalb nicht verschwunden. Da wird sie sich noch sehr geschickt bewegen müssen. Aber ich traue ihr das zu.
Laut einer Umfrage glauben nur 17 Prozent der Bürger, dass die SPÖ einen klaren Plan habe, wie es mit dem Land weitergehen soll.
Die Sozialdemokratie hat keinen Themenmangel, sondern sie hat sogar ein erhöhtes Auftragsvolumen - sich nämlich den Tendenzen zur illiberalen Demokratie entgegenzustellen. Die europäische Integration steckt in der Krise. Sie wird gefährdet im Wesentlichen dadurch, dass es in einigen Ländern eindeutige Tendenzen gibt, nach rechts zu rücken. Das bedeutet den Aufruf zu einem Rückzug in den Nationalstaat, zum Ausspielen der nationalen Karte. Damit verbunden ist eine zunehmende Relativierung des Parlamentarismus. Die SPÖ muss organisatorisch und kommunikativ so stark werden, dass sie den Wählern klarmachen kann, dass das Irrwege sind. Und dass die Sozialdemokratie überzeugt ist, den besseren, humaneren, solidarischeren Weg zu gehen.
Das hat sie bisher nicht geschafft.
Durch ihren pfleglichen Umgang mit der Vergangenheit mag vielleicht der Eindruck entstanden sein, die Sozialdemokratie sei eine rückwärtsgewandte Bewegung. Das wird untermauert durch erhebliche Misserfolge von sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern Europas, etwa Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland. Daraus muss man Lehren ziehen. Die Rahmenbedingungen, in denen wir leben, haben mit den Bedingungen der erfolgreichen Vergangenheit nichts mehr zu tun. Heute geht es um Globalisierung, um Digitalisierung, um Migration. Da hat Rendi-Wagner auf dem Parteitag richtig gesagt: Wir brauchen beides, wir brauchen Humanität und Ordnung. Ich würde inbesondere den Ordnungsbegriff stark in den Vordergrund stellen. Sonst läuft die SPÖ Gefahr, immer nur wegen der Humanität zur Verantwortung gezogen zu werden.
Man sagt ja, die SPÖ habe die letzte Wahl in der Zuwanderungsfrage verloren, weil sie kein Sensorium hatte für das Unbehagen der kleinen Leute.
Wäre nicht eine Reihe von Fehleinschätzungen passiert, dann würden wir ja nicht so intensiv über die Schwächen der Sozialdemokratie und über ihre Wählerverluste diskutieren müssen. Der Weg zur neuen, visionären Präsentation der Partei muss über die Analyse führen.
Das hat man auf dem Parteitag vermisst.
Das könnte schon sein. Dieser Parteitag – so schwungvoll und erhellend er gewesen ist – kann ja nicht das Ende der politischen Arbeit sein. Sondern von diesem Parteitag aus sind neue und andere Wege zu gehen. Wenn die Vorsitzende sagt, ich werde mit euch rennen, dann muss schon klar sein: wohin? Da bedarf es der Überzeugungsarbeit, denn viele Parteimitglieder müssen für den Neustart erst gewonnen werden, weil sie der Meinung sind, dass das, was bisher geschah, ohnehin ausreicht. Man muss sich nicht nur auf eigene Werte konzentrieren, sondern auch darauf, wie man die Bevölkerung bei der Umsetzung mitnimmt. Sonst steht man irgendwann einmal allein auf der Bühne und deklamiert.
Wie passen Forderungen im SPÖ-Programm nach 30-Stunden-Woche oder nach sechs Wochen Urlaub zur heute sich so stark verändernden Welt?
Diese Forderungen habe ich interpretiert als eine Positionierung im sozialpartnerschaftlichen Austragen von Gegensätzen. Wichtig ist aber: Der Leistungsbegriff darf der Politik nicht abhanden kommen.
Das hat auch Rendi-Wagner in Wels angesprochen.
Ja, so ist es. Die Sozialdemokratie läuft ohnehin Gefahr, dass die bürgerliche Gegenseite ihr vorwirft, die Hängematte anzubieten und das Heil der Zukunft in der geringeren Leistung zu sehen. Den Herausforderungen der Globalisierung begegnet man nicht, indem man sich gemütlich zurücklehnt. Der leistungsfähige Sozialstaat beruht auf der Leistungsfähigkeit der vorgelagerten Wirtschaft. Wenn diese Leistung ausbleibt, dann kann man den Sozialstaat hinterfragen, und das tun ja die Bürgerlichen auch. Die Arbeiterbewegung – das ist ein historischer Begriff, aber kein schlechter Begriff – hätte sich nie etwas Gutes getan, hätte sie den Arbeitsbegriff relativiert. Ganz im Gegenteil: Arbeit ist ja der wesentliche Beitrag der unselbständig Erwerbstätigen für die gesamtwirtschaftliche Leistung. Und die ist wieder die Voraussetzung für Gesundheitsversorgung, Altersvorsorge und so weiter.
Es gibt aber Signale aus der SPÖ, die das konterkarieren - etwa bei der Mindestsicherung.
Mindestsicherung ist ein eigenes Kapitel. Da ist ein vielmonatiges Versäumnis passiert, indem die Politik nie ausreichend erklärt hat, was die Mindestsicherung überhaupt ist. Viele Leute glauben, da kommt einer aus Kamerun daher und kriegt gleich 1500 Euro. So ist es ja nicht. Sie ist als Hilfe, als Übergangslösung geschaffen worden. So ist sie fast zu einem Feindbild geworden. Hier müsste man dringend aufholen. Es ist politisch falsch, mit der Mindestsicherung zu politisieren. Sondern hier sollte der Vater Staat wirklich die Vaterrolle einnehmen. Und wie der Vater sagt, ich helfe dir, wenn du in Not bist, muss er auch sagen, du musst deine Leistung erbringen, damit du aus der Not herauskommst.
Die neue SPÖ-Chefin muss den eher städtischen, linksliberalen Flügel mit dem rechten, der mehr Entschlossenheit in der Migration fordert, zusammenführen und versöhnen. Wie soll das gelingen?
Sie könnte jetzt die Gunst des Neustarts nützen, um in den verschiedensten Wirtschafts- und Gesellschaftsbereichen durch eine offene Tür Fuß zu fassen. Das könnte gelingen, indem man mit der Wissenschaft, mit der Industrie, mit dem Tourismus, mit dem Gewerbe vorurteilsfrei einen Dialog beginnt. Das könnte ein sehr guter Anfang sein, um zu belegen, dass die SPÖ für die offene Gesellschaft und für Europa zur Verfügung steht. Dass man Vorurteile streicht und eine neue Dialogkultur einführt. Dies auch als Zeichen an die Basis: Seht her, wir isolieren uns nicht. Wir haben unsere Standpunkte und Meinungen, aber wir sperren uns nicht ein.
Wie soll der Weg zurück zu einer Regierungsmehrheit aussehen? Zur ÖVP geht man sehr auf Distanz, aber irgend ein Bündnis wird man brauchen.
Das wird die Zeit zeigen. Wir haben noch vier Jahre bis zur nächsten Wahl. Jedenfalls sollte man sehr sorgfältig abwägen. Gar nicht so wenige Staatsbürger haben es nämlich nicht wirklich goutiert, wie die ÖVP Herrn Strache und sein Gefolge salonfähig macht und die FPÖ in ihren Positionen stärkt. Um eine minimale Sachlichkeit aufzubauen, wird es auch wichtig sein, wie das EU-Land Österreich sich in der Europafrage weiterentwickelt. Die Hinwendung der freiheitlichen Europaabgeordneten zu den rechtsextremen Gruppierungen im europäischen Parlament ist in der Beurteilung der Bundesregierung nicht hinnehmbar.
Oft wird auf SP-Seite nur die Regierung dämonisiert. Wäre es nicht besser, den Schwerpunkt auf eigene Antworten zu legen?
Natürlich genügt Kritk alleine nicht. Nur, die Opposition kann sich auch nicht hinstellen und Loblieder singen auf die Regierenden. Und für Kritik gibt es ja fürwahr genug Ansatzpunkte.