Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, lauten die ersten Worte jenes Arbeiterliedes, mit dem vor rund hundert Jahren die Hoffnung auf eine „hell aus der dunklen Vergangenheit leuchtende Zukunft“ besungen wurde. Nun feiert die SPÖ in wenigen Tagen ihr 130-Jahr-Jubiläum. Sie hat diese bewegte Zeitspanne – mit dem Ende der Habsburgermonarchie, zwei Weltkriegen, den Wirren der Zwischenkriegszeit und dem Kalten Krieg, aber auch dem unerwarteten Aufschwung der Zweiten Republik – mit all ihren Schwierigkeiten, Rückschlägen und letztendlichem Erfolg manchmal ertragen (müssen), noch öfter aber aktiv mitgestaltet, am stärksten in den 1970er-Jahren auf Basis der dreimal errungenen absoluten Mehrheit bei Nationalratswahlen.
Seit rund drei Jahrzehnten aber gibt es eine deutliche Abwärtsbewegung – ein Phänomen, das nicht nur die österreichische Sozialdemokratie trifft, sondern auch jene in anderen europäischen Ländern und die traditionellen christlich-sozialen und liberalen Parteien. Dabei waren es gerade all diese, die nach 1945 das zerstörte Europa mit finanzieller Hilfe der USA und unter deren militärischem Schutzschirm wiederaufgebaut und mit dem Projekt der europäischen Integration sowohl Prosperität und soziale Sicherheit als auch eine jahrzehntelange Friedensperiode sichergestellt haben – eine für diesen Kontinent mit seiner kriegerischen Vergangenheit neuartige Erfahrung.
Am „Ende ihrer Kunst“
Zu Beginn der 1990er-Jahre hat der Soziologe Ralf Dahrendorf die Sozialdemokratie gerade wegen ihres Erfolges – Errichtung des Wohlfahrtsstaates und Garantie sozialer Bürgerrechte – am „Ende ihrer Kunst“ gesehen. Ihre Mission sei erfüllt und die „Entmutigung von Innovation und Initiative“ werde zum Problem. Tatsächlich schien ihm die Entwicklung der letzten 30 Jahre recht zu geben, denn richtig ist, dass die Sozialdemokratie als kämpferische Bewegung für die ausgebeutete und rechtlose Arbeiterklasse ein Kind des Industriezeitalters war. Inzwischen aber sind wir ins digitale Zeitalter eingetreten mit massiven Auswirkungen nicht nur, aber vor allem auf die Arbeitswelt.
War das Industriezeitalter durch riesige Fabriken mit gewaltigen Sachanlagen und rauchenden Schloten sowie durch Kohle bzw. Erdöl gekennzeichnet, so sind es im digitalen Zeitalter Tech-Giganten der Plattformökonomie mit Nullgrenzkosten. Sie haben kaum Sachanlagen, umso mehr aber benötigen sie rauchende qualifizierte Köpfe und ihre Rohstoffe sind Daten. Sieben der heute zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind Internet-Giganten, die fünf führenden – Apple, Google/Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook – zudem allesamt amerikanische Firmen, dicht gefolgt von den chinesischen Tech-Riesen Alibaba, Tencent und Baidu. Firmen aus Europa finden sich nicht in der Top-Liste. Erst auf Platz 17 liegt Royal Dutch Shell als wertvollstes europäisches Unternehmen; bestplatziertes IT-Unternehmen ist die deutsche SAP auf Rang 62. Alle diese neuen IT-Firmen gab es vor 25 Jahren noch nicht. Dies zeigt den Wandel von der materiellen Wirtschaft mit riesigen Produktionsanlagen zu einem immateriellen System, das auf geistigem Eigentum, Patenten, Software, Unternehmensprozessen und hoch qualifizierten Mitarbeitern beruht. Wir steuern ins Zeitalter des digitalen Kapitalismus ohne sichtbares Kapital.
Neue Arbeitswelt
Dies alles verändert natürlich auch die Arbeitswelt: Alte Aufgaben fallen weg, doch mehr neue kommen dazu. Viele fürchten, dass uns mit der Digitalisierung die Arbeit ausgehen könnte. Nach aller historischen Erfahrung wird dies nicht der Fall sein, wenngleich viele Berufe wie z. B. Werkzeugmacher oder Buchdrucker schon ausgestorben sind und noch weitere dieses Schicksal erleben werden. Gleichzeitig entstehen in der „kreativen Ökonomie“ des Digitalzeitalters neue Berufe, die zumeist höhere Qualifizierung erfordern. Schon jetzt gibt es in vielen Bereichen einen Fachkräftemangel, der die Wirtschaftsentwicklung behindert, während die Zahl der Arbeitslosen immer noch relativ hoch ist. Für sie bleibt möglicherweise nur mehr die „Gig-Ökonomie“, d. h. gering bezahlte Tätigkeiten bei formeller Selbstständigkeit, Stichwort „Ich-AGs“, aber hoher Abhängigkeit, oder Null-Stunden-Verträge, bei denen auch die Fixierung von Mindestlöhnen wirkungslos ist und die Gefahr des Prekariats droht.
Umso wichtiger ist Bildung, Bildung und Bildung, um Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern sowie durch Produktivität die Auswirkungen der alternden Gesellschaft neben geordneter Zuwanderung auszugleichen. Also Leistung, Aufstieg, Sicherheit in einer globalisierten und digitalisierten Welt in sozialer Verantwortung sowie mit nationaler und internationaler Solidarität verbunden.
Neue Herausforderungen
Die Veränderungen der Arbeitswelt und der demografische Wandel stellen neue Herausforderungen der sozialen Frage im digitalen Umfeld dar – eine ureigenste sozialdemokratische Aufgabe im Umfeld der notwendigen Modernisierung der neuen Zeit. Die Sozialdemokratie ist jedoch in diesem neuen Zeitalter noch nicht angekommen, sondern verharrt in alten Mustern. Und dabei reden wir noch nicht über die geopolitischen und ökonomischen Verwerfungen und Veränderungen, die am deutlichsten erkennbar sind im Zweikampf zwischen den USA und China sowie am neuen Großmachtstreben Russlands, den katastrophalen Wirren im nahöstlich-islamischen Raum und der Bevölkerungsexplosion in Afrika, deren Auswirkungen uns dereinst die Flüchtlingswelle von 2015 als harmlos erscheinen lassen könnten.
Die rasanten und umwälzenden Veränderungen erzeugen Unsicherheiten und Ängste: Abstiegs-, Veränderungs- oder Identitätsverlustängste. Bislang hat sich die Sozialdemokratie zu wenig um diese Ängste gekümmert, obwohl diese Entwicklungen schon zu gewaltigen sozialen Umbrüchen und wachsender Ungleichheit geführt haben. Doch mit Beharren und Bewahren oder punktuellem Aktionismus ist diesen gewaltigen Herausforderungen nicht beizukommen. Im Gegenteil sind sie nur mit neuen, den Veränderungen der Welt im 21. Jahrhundert angemessenen Perspektiven und Orientierungen, die Zuversicht und Hoffnung vermitteln, zu überwinden. Dafür sind Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die vielen erforderlich, sollen sie sich nicht vergessen fühlen und dann den irreführenden Schelmereien der politischen Rattenfänger folgen. Mit dem Schüren von Angst und Zwietracht hat man noch nie eine Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft gefunden. Dazu sind Sicherung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Meinungsfreiheit mit Weltsicht und Weltoffenheit unersetzlich, vor allem aber soziale Sicherheit, Chancengleichheit und faire Verteilung.
Hierin liegt die künftige Aufgabe der Sozialdemokratie. Zu ihrem 130-jährigen Jubiläum und den großartigen Erfolgen der Vergangenheit muss man ihr gratulieren. Wenn sie nun die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen und strukturellen Veränderungen in der Welt zu ihrem Auftrag macht, kann sie auch in Zukunft Großartiges für dieses Land und seine Menschen erreichen. Der neuen, erstmals weiblichen Parteivorsitzenden ist für eine erfolgreiche Gestaltung der Zukunft alles Gute zu wünschen.
Hannes Androsch