Für Überraschungen war Christian Kern in den zweieinhalb Jahren an der Spitze der SPÖ immer wieder gut. Kleine Überraschungen im Vergleich mit dem gestrigen Paukenschlag, aber vielleicht doch symptomatische.
Wir erinnern uns an den höflich-kühlen ehemaligen Verbund- und ÖBB-Manager, der plötzlich mit Feuer und Glut die Trägheit und Selbstbezogenheit der Politik geißelte. 2016 war das. Die Politik seines Vorgängers, den die Partei kurz zuvor mit Trillerpfeifen vom Rathausplatz gejagt hatte, war da durchaus mitgemeint. Die des Koalitionspartners sowieso. Würden die Parteien so „machtversessen und zukunftsvergessen“ weitermachen, wäre es nicht mehr weit bis zum Aufprall. Der Applaus war ihm sicher und er genoss ihn.
Dann kamen die Niederungen. Wie sollte sich der Manager, als der sich Kern verstand und gab, mit Ceta umgehen? Natürlich wusste er um die Bedeutung des Freihandelsabkommens mit Kanada, ein klares Bekenntnis dazu aber verbat er sich vorsichtshalber. Eine halbherzige, nicht repräsentative „Mitgliederbefragung“ in der Partei musste ihm aus der Kalamität helfen.
Weiterwursteln statt Wählen
Im Jänner 2017, kein Jahr nach dem fliegenden Wechsel ins Kanzleramt, überraschte, ja brüskierte Kern den Koalitionspartner mit seinem „Plan A“ – einer Mischung aus SPÖ- und ÖVP-Positionen, die sich wie das Wahlprogramm für einen nahen Urnengang lasen.
Wählen gehen wollte Kern dann aber doch nicht – ein strategischer Fehler, wie sich zeigen sollte. Er habe eben fürs Land arbeiten wollen, sein Widersacher habe nur die eigene Macht im Blick, wird sich Kern später über seinen Fehler hinwegtrösten. Währenddessen wurstelte seine Koalition mit ein paar neuen Programmpunkten weiter, bis das Überraschungsmoment verflogen war. Der nächste Coup blieb Sebastian Kurz vorbehalten. Wovor Kern zurückgeschreckt war – Neuwahlen –, er rief sie aus. Und nun lernte man Kern von einer anderen Seite kennen.
Der Versuch, die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zusammenzudenken, wich scharfen Tönen. Immer wieder warnte Kern von den „Großkonzernen“, deren einen er selbst stolz geführt hatte, und malte das Schreckgespenst der Demontage des Sozialstaats an die Wand. Mit knapper Not konnte Kern damit das Ergebnis seines vertriebenen Vorgängers halten, die Nummer eins aber war für die SPÖ verloren. Eine Schmach für den Erfolgsverwöhnten. Und wieder muss sich Kern neu erfinden.
Späte Wende in der Migrationspolitik
Verbittert wirkte der Entthronte, wütend, dass ein junger Mann, den er unterschätzt hatte, ihn bezwingen konnte. Langsam erst setzte sich die Erkenntnis durch, er und seine Partei könnten das Hauptthema des Wahlkampfes unterschätzt haben. Wenige Tage vor dem gestrigen Coup erst legte die SPÖ das Ergebnis dieses Umdenkens vor, ein gemeinsames Programm zur Migration, das sich nur graduell von dem der Regierung unterscheidet.
Ganz angekommen in seiner Rolle als Oppositionschef schien Kern bis zuletzt nicht. Zeitungen rechneten ihm die Fehlstunden im Parlament vor, eine Waffe, die der Kanzler Kern einst gern gegen seinen ehrgeizigen Außenminister eingesetzt hatte. Die Sprache radikalisierte sich, erinnerte manchmal an die Tiraden eines Herbert Kickl; nicht im Inhalt, aber im Ton, im Grad der Überspitzung.
Kerns Hang zur komplexen Sprache
Vielleicht war es von Anbeginn an die Sprache, die Kern zum Verhängnis wurde. Zu kompliziert drückte er aus, was auch einfach zu sagen gewesen wäre. Doch den Verlust der Eleganz wollte der Stilist nicht riskieren. Der Preis war der Verlust eines Publikums, das die SPÖ zu ihrer Kernklientel rechnet. Die verstanden die einfachen Sätze der Konkurrenz besser.
Nun sucht Kern eine Arbeit in Kreisen, die seine Rede verstehen, schätzen. Sofern ihm bis dahin nicht noch eine Volte in den Sinn kommt.
Thomas Götz