Heute legen Peter Kaiser und Hans Peter Doskozil dem SPÖ-Vorstand ihr Programmpapier zu Migration, Integration und Asyl vor. Haben Sie dieses Thema in den letzten Jahren übersehen?
Christian Kern: Entschuldigen Sie, aber das ist falsch. Wir haben uns in höchstem Maße während unserer Regierungszeit damit beschäftigt. Es ist ja kein Zufall, dass die Zahl der Asylwerber Monat für Monat zurückgegangen, die Sicherheit in Österreich auf dem besten Niveau seit 15 Jahren ist. Es wird manchmal gesagt, wir reden zu wenig über Migration – wir beschäftigen uns intensiv damit.
Auch Bundespräsident Van der Bellen hat vor Kurzem gemeint, Migration sei nicht das allerwichtigste Thema unserer Zeit. Was sind die wichtigsten Themen?
Erstens: Wie sichern wir unseren Wohlfahrtsstaat ab? Das zweite Thema ist durch Trump sehr aktuell: Das erste Mal definiert ein US-Präsident Europa als Gegner. Darauf müssen wir in einem starken Europa antworten und überlegen, wie wir uns im globalen Wettbewerb durchsetzen können. Wir müssen uns gegen Konkurrenten, die auf Lohn- und Umweltdumping setzen, behaupten. Drittens der Klimawandel – eine existenzielle Herausforderung, aber auch die Chance, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Investitionen auszulösen. Es wäre unsinnig, das als grünes Fundi-Thema zu sehen. Und die vierte Thematik ist natürlich die Migrations- und Integrationsfrage, die uns weiter beschäftigen wird, wie die aktuelle Schuldiskussion zeigt.
Hat es da Versäumnisse gegeben, wenn man sich das Buch von Susanne Wiesinger anschaut?
Ich teile die Kritik von Frau Wiesinger. Ich habe sie zu mir eingeladen, als sie zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen ist – ich hatte den Eindruck, dass wir uns einig darüber sind, was passieren muss. Pädagogen nicht alleine zu lassen, sie zu unterstützen, das war das Programm, das ich mit Sonja Hammerschmid aufgesetzt hatte. Wir wollten mehr Psychologen und Sozialarbeiter, Sprachförderung ausbauen – nach der Wahl hat die neue Regierung alles wieder gestrichen.
Aber an sich ist es doch Sache der Länder, zum Beispiel Psychologen zur Verfügung zu stellen.
Man kann die Länder ja nicht am kurzen Arm verhungern lassen. Jetzt wird erklärt, mit den Deutschklassen wird das alles besser werden und es trifft nur die Ausländer, aber insgesamt werden 500 Sprachförderlehrer gekürzt. Das heißt, der reguläre Sprachförderunterricht durch Native Speaker wird für alle zurückgefahren.
Wie beurteilen Sie Österreichs Ratsvorsitz?
Wir haben bisher ein teures Auftakt-Event in Schladming gesehen, das mit eineinhalb Millionen Euro beworben worden ist. Das war das Highlight. Dazwischen war eine Hochzeit im Dirndl, Ausritte gegen den Kommissionspräsidenten, die UN und die Abkehr von der Menschenrechtskonvention. Es wurden die wichtigen Themen nicht angegangen und bei der Eindämmung der Fluchtursachen und bei den Rückführungsabkommen kein Fortschritt erzielt. Auch, was Löger zur Steuerpolitik erzählt hat, ist leider substanzlos geblieben.
Am Wochenende hat der Finanzminister erklärt, er und seine Kollegen hätten sich auf eine europaweite Digitalsteuer bis Jahresende geeinigt.
Nach dem Gespräch mit Löger war der deutsche Finanzminister Scholz bei mir. Er sagt, den Zeitplan kann man nicht garantieren. Österreich hat zugelassen, Panama und andere Steueroasen von der Liste der Steuersünder zu streichen. Warum treten wir nicht für die Offenlegung von Umsatz und Gewinn multinationaler Konzerne ein? Stattdessen versucht man, abzulenken, indem man die Werbeabgabe umverteilt. Ein guter Vorschlag, aber in dem gesamten Mosaik ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Motto des Ratsvorsitzes ist „ein Europa, das schützt“. Was wäre Ihr Motto gewesen?
Ich halte das mit dem „Schützen“ grundsätzlich für richtig, aber so, wie es jetzt interpretiert wird, greift es mir viel zu kurz. Es muss der Schutz vor Arbeitslosigkeit sein, vor sozialen Risiken. Man hätte den Fokus auch darauf legen müssen, die Sozialunion weiterzuentwickeln.
Glauben Sie, die Österreicher wären bereit, eine solche Zentralisierung mitzutragen?
Das ist keine Zentralisierung, sondern die Forderung nach Mindeststandards. Ich will kein Lohn- und Sozialdumping in Europa. Das trifft zuerst unsere Arbeitnehmer und Unternehmen. Wir wissen, dass die ganze Finanzarchitektur Europas zehn Jahre nach Lehman nach wie vor vor riesigen Herausforderungen steht. Die Vollendung der Banken-Union wäre notwendig, eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik, damit sich die Menschen darauf verlassen können, dass Sicherheit und Wohlstand passen. Da ist von der Regierung bisher relativ wenig gekommen. Man zieht die Wahlkampfshow fort.
Aber wenn man sich die Umfragen ansieht, reicht das offenbar. Wie wollen Sie dem begegnen?
Mein erstes und wichtigstes Ziel ist ja nicht, Umfragen zu gewinnen. An Schweden sehen wir, dass die Untergangsprognosen für die Sozialdemokratie weit übertrieben sind. Wir waren die einzigen Sozialdemokraten in Kontinentaleuropa, die in den letzten zwei Jahren an Stimmen und einen kleinen Prozentanteil dazugewonnen haben. Das ist durchaus eine Bestätigung, dass man sich auch mit Fragen beschäftigen muss, die nicht nur Migration sind.
Gibt es eigentlich ein Regierungsmitglied, dessen Arbeit Sie als positiv bewerten würden?
Es gibt Themen, wo wir eine ähnliche Richtung eingeschlagen hätten. Bei der Digitalisierung der Schule zum Beispiel. Das halte ich für ein wichtiges Projekt, das man sorgsam vorbereiten muss. Auch bei der Arbeitsmarktpolitik machen wir gerne mit. Wir haben Vorschläge gemacht – Aktion 20.000, Jobbonus, überbetriebliche Lehrwerkstätten –, das ist jetzt im ersten Schritt alles eingestellt worden. Wenn man bereit ist, mit uns ernsthaft darüber zu diskutieren, tragen wir den Arbeitsmarktgipfel gerne mit.
Georg Renner