Sommerloch? Oder Sommerhitze, die Kommentatoren in den Wahnsinn treibt? Postmodernes Lebensgefühl, das zu Flausen aller Art verführt? Das mag alles eine Rolle spielen. Aber es könnte lehrreich für den Umgang mit anderen Bildern sein, wenn klar wird, dass Bilder keine Ereignisse „darstellen“, sondern Ereignisse in den Köpfen der Betrachter „erzeugen“.
Der ethnografische und ikonologische Blick kann uns, auch wenn er die eigene Gesellschaft betrifft, deutlich machen, dass es von der dummen oder gescheiten, manipulativen oder nüchternen, ideologiegeladenen oder kultivierten Perspektive, mit der man ein Foto betrachtet, abhängt, was man sieht. Wir reden natürlich vom „Knicksfoto“: Der russische Präsident kommt als Gast zur Hochzeit der österreichischen Außenministerin, wagt mit ihr ein Tänzchen, und sie beendet es mit einem tiefen Knicks. Ein privates Foto. Ein weltpolitisches Foto.
Regierung glättet Wogen nach Aufregung um Kneissl-Hochzeit
Perspektive 1: Schon die erste Welle von Kommentaren interpretiert den Knicks „politisch“. Einerseits geschlechterpolitisch: Ständisches Relikt? Weibliche Unterwerfung? Andererseits außenpolitisch: Österreichische Botmäßigkeit gegenüber Russland? Visualisierung eines Machtverhältnisses: Österreich sinkt in die Knie. Wie man erkennt, greifen wir flugs auf Symbolisierungen und Mythisierungen zurück. Eine beiläufige Geste als Indiz für irgendetwas ganz anderes, Tiefes, Wichtiges. Und Strategisches: „Sie“ hätte wissen müssen, dass die „nette Geste“, Putin eine Einladung zu geben, im Wissen darum, dass er ohnehin nicht kommt, „schiefgehen“ kann. Er kommt. Und dann auch noch der Knicks.
Perspektive 2: Der Unkenntnis österreichischer Kommentatoren über ihre eigenen kulturellen Traditionen hat der Benehmensexperte Thomas Schäfer-Elmayer rasch abgeholfen: Es handle sich bei dem Knicks um ein übliches Ritual, das in den Benimm-Kursen auch noch gelehrt werde, um ein rituelles „Compliment“ der Dame nach einem Gesellschaftstanz, das mit einer Verbeugung des Mannes beantwortet werde. (Woran Elmayer nicht erinnert hat: Dem „Knicks“ entspricht der „Diener“ des Herrn gegenüber der Dame; heute selbstverständlich ein Begriff, den niemand ungestraft verwenden kann, aber die damit angesprochene korrekte Verbeugung mit demütiger Senkung des Kopfes gibt es natürlich.) Also jedenfalls eine andere Bildinterpretation: Eine etwas altertümliche Höflichkeitsgeste, die mit Politik nichts zu tun hat.
Perspektive 3: Von den internationalen Zeitungen kann man natürlich nicht erwarten, dass sie österreichische Tanzsitten aus verschiedenen Milieus kennen – Bemühen um interkulturelles Verstehen ist ja auch ein Mythos. Die internationalen Medien sehen Weltpolitik: Österreichs Anbiederung an Russland. (Nun wissen wir, dass die amerikanischen Medien alle Hände voll zu tun haben, die „Subtilitäten“ ihres eigenen Präsidenten zu interpretieren, der freilich ein ganz anderes Kaliber darstellt, auch was die Verknüpfung von privatem Geschäft und politischem Amt betrifft. Er wäre ja gerne ein ordentlicher Diktator wie Putin, nur kommt er im amerikanischen System vorderhand damit nicht durch. Dafür würgt er die Weltwirtschaft ab.)
Perspektive 4: Gefinkelte Kommentatoren wissen hinterdrein, dass man jede Art von Unverständnis hätte antizipieren müssen. Man darf keine Bilder liefern, die, auch wenn sie harmlos, spontan oder traditionell sind, zu falschen Interpretation führen oder zur visuellen Meuchelei verwendet werden können. Ob öffentlich oder privat: Man darf nur fehldeutungsresistente Bilder erzeugen. Knicks: ein schwerer ikonografischer Fehler. Für Politiker ist kein Bild privat, ob auf dem Tennisplatz oder auf dem Berggipfel. Freilich ist es gleichzeitig das Bestreben aller Journalisten und Fotografen, solche eingeforderte „Bildpolitik“ zu unterlaufen, um in den Bereich der „Privatheit“ vorzudringen, den „wirklichen“ Menschen, zuweilen das Menschelnde zu zeigen; vielleicht gar bei einem privaten Ausrutscher, einer unbedachten Äußerung, dabei zu sein.
Perspektive 5: Was immer sonst möglicherweise privat oder semi-privat gewesen wäre (auch die Minister sind ja „Arbeitskollegen“), wird durch Putins Auftritt jedenfalls hochpolitisch. Verrät das Bild der freundschaftlichen Beziehungen einen österreichischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem großen Machthaber? Und Putins demonstrative Gutaufgelegtheit im Westen: Will er ein paar nette „Privatfotos“ produzieren? (Und muss einmal nicht reiten oder fischen gehen wie auf den herkömmlichen Propagandafotos.) Oder ist es Heimtücke: Den Westen auseinanderdividieren? (Aber in einem unwichtigen Land wie Österreich? Der Abendtermin mit Angela Merkel war natürlich der um Dimensionen wichtigere.) Man kann locker weiter spekulieren – und überinterpretieren: Unterhöhlt Österreich die westeuropäische Anti-Putin-Front? Oder leistet es vielmehr atmosphärische Vorarbeit bei dem angedachten neuen Zusammenrücken von Europa, Russland und der Türkei angesichts eines verrückten US-Präsidenten?
Perspektive 6: Wenn man (in klarer ideologischer Orientierung) manipulative Fehlinterpretationen plant, also von vornherein beabsichtigt, mit dem Material ungeliebten Politikern am Zeug zu flicken, sind der Bilddeutung ohnehin kaum Grenzen gesetzt. Je mehr man Sachlagen oder Bilder zurechtbiegt, desto höher muss gleichzeitig die moralische Tonlage gestimmt sein – Hauptsache, das Bild gibt es irgendwie her; und Hauptsache, es wirkt. Quasi-private Bilder eignen sich für diesen Missbrauch oft besser.
Ein paar Lehren können wir aus der Knicks-Story ziehen. Erstens ist die Spitzenpolitik ein Job, bei der Spontanität und Privatheit gegen null tendieren (müssen). Man muss drei Ecken vorausspekulieren und sich unangreifbar machen – deswegen sind politische Äußerungen normalerweise so langweilig. Zweitens ist ein Foto nicht einfach ein Foto, sondern Rohstoff für ein Spektrum von Ausdeutungen. Drittens leben wir in einer Welt, in der alle Szenen dicht mit Mythen und Symbolen überlagert werden. Viertens verrät die Deutung von Bildern (und Ereignissen) oft mehr über den Betrachter als über das Ereignis.
Manfred Prisching