Es war das abschließende Urteil einer Dame mittleren Alters an einem kalten Wintermorgen im Jahr 1997 in einem Abteil in einem ÖBB-Zug auf der Südbahnstrecke von Spielfeld nach Graz, nachdem sie sich aus mir nicht mehr bekannten Gründen auf ein Gespräch mit einem Offizier über die Sinnhaftigkeit des Bundesheers eingelassen hatte und die Unterhaltung nun beenden wollte: „I sog Ihnen jetzt wos, Herr Major: Des Heer ghert obgschofft!“ Der Offizier, mit einem resignierten Blick aber einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, erkannte die Vergeblichkeit der Diskussion und versuchte sie nicht einmal fortzuführen. Er widmete sich für den Rest der Zugfahrt seiner Zeitungslektüre.
Das Gespräch brannte sich in mein Gedächtnis ein. Halb verschlafen, aber mit wachsendem Interesse hatte ich als ein 14-jähriger Mittelschüler der Darstellung des Offiziers über seine Rolle während des Slowenienkrieges 1991 im ehemaligen Korpskommando I gelauscht. Das Bundesheer führte damals einen Sicherungseinsatz an der Staatsgrenze durch, um das Überschwappen von Kampfhandlungen in dem Krieg im Nachbarland nach Österreich zu verhindern. Damals schon stellte ich mir die Frage: Wenn es kein Krieg ist, der droht von einem Nachbarland nach Österreich überzuschnappen, welche Entwicklungen und Ereignisse sind es dann, die die Existenz eines Heeres rechtfertigen?
Krieg und militärischer Konflikt passten bekanntlich nie in die kollektive Identität der Zweiten Republik. Mit Ausnahme der Militärkapellen sowie dem Einsatz diverser Truppenteile im Zuge von Naturkatastrophen fristete das Bundesheer ein oft stiefmütterliches Dasein in den vergangenen sieben Jahrzehnten.
Mit dem sich langsam abzeichnenden Ende der alten liberalen Ordnung sowie der Rückkehr der Multipolarität und dem globalen Rückzug der Supermacht USA sind die Chancen für singuläre Kriegshandlungen auch in Europa wieder deutlich gestiegen. Auch die Möglichkeit, dass das Bundesheer in naher Zukunft zum Einsatz kommt, ist damit gewachsen. Trotz Dringlichkeit und Relevanz für Österreich wird dieser Entwicklung in der breiteren Öffentlichkeit und der Politik bisher jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Viel häufiger wird hingegen die prinzipielle Sinnhaftigkeit eines starken, gut gerüsteten Militärs angezweifelt.
Es ist daher durchaus an der Zeit, die Sinnhaftigkeit eines starken und hinreichend finanzierten Militärs zu beleuchten: Warum also brauchen wir ein starkes Bundesheer? Kurz und einfach gesagt: weil es uns hilft den Frieden zu erhalten.
Die Hauptaufgabe des österreichischen Bundesheers ist und bleibt die militärische Landesverteidigung - im Idealfall mittels Abschreckung. Mit anderen Worten: Das österreichische Militär soll die Erhaltung des Friedens gewährleisten, indem es potenzielle Aggressoren auf dem Land, in der Luft und im Cyberspace durch die Aussicht auf immensen Schaden davor abschreckt, Österreich in jeglicher Form anzugreifen. Alle anderen Aufgaben wie etwa Katastrophenschutz und Assistenzeinsätze sind sekundär. Dies schließt auch die Auslandseinsätze ein. Sie sind Ausdruck einer präventiven Sicherheitspolitik, die jedoch wenig mit der eigentlichen Kernaufgabe des Bundesheers zu tun hat. Der Ausbruch eines Krieges auf österreichischem Territorium würde daher an sich bedeuten, dass das Militär in seiner Hauptaufgabe - der Vermeidung von militärischen Konflikten - versagt hat.
Abschreckung als Hauptaugenmerk des Militärs mag absurd und abstrakt klingen. Zunächst aber verlangt es die Frage: Wer soll abgeschreckt werden? Chinesische Hacker im Cyberspace? Russische Panzer zu Land? IS-Terroristen? Oder sogar Nato-Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Tschechien? Die Antwort lautet schlicht: Ein Militär muss auf alle Individualitäten vorbereitet sein, um einen Abschreckungseffekt zu erzielen. Es verlangt die Fähigkeit, einen konventionellen Verteidigungskrieg gegen konventionelle Gegner führen zu können, aber auch die Abwehr von subkonventionellen Bedrohungen wie etwa strategische Cyberattacken von nicht staatlichen Akteuren.
Warum dieser Kernauftrag des Bundesheers so wenig thematisiert wird, liegt wohl an der paradoxen Logik dahinter: Wer Frieden will, muss aufrüsten. Was in der Logik des Alltags gleichzusetzen wäre mit der Aussage: „Wer abnehmen will, sollte mehr essen.“ Militärische Konfrontationen im Frieden und im Krieg sind jedoch von einer paradoxen oder widersprüchlichen Logik bestimmt. Schon im 4. Jahrhundert schrieb der römische Gelehrte Vegetius: „Si vis pacem para bellum.“ Übersetzt: „Wer den Frieden will, bereite sich auf den Krieg vor.“
Die Friedensforscherin und Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner war es, die die paradoxe Logik der militärischen Abschreckung im Jahr 1891 am besten beschrieb: „Ein ewiges Vorbereiten auf das, was durch die Vorbereitung vermieden werden soll, zugleich ein Vermeiden dessen, was durch die Vermeidung vorbereitet wird.“ Sie bezeichnete die Logik als „Widerspruchsmonstrum“. Suttner schrieb dies am Vorabend des Ersten Weltkriegs und ihre Beschreibung zeugt von der Gefahr einer Abschreckungspolitik: Sie kann schnell in einen Rüstungswettlauf münden.
Die militärische Abschreckung funktioniert jedoch nur mit moderner Ausrüstung und gut ausgebildeten Soldaten. Die Erwartung eines Angriffs von Ungarn, Italien, oder Russland in den nächsten Jahren ist jedoch nicht der Grund, warum das Bundesheer Panzer, Haubitzen und Luftabwehrraketen besitzt. Das österreichische Militär rechnet ohnehin mit einer zumindest zehnjährigen Vorwarnzeit vor einem konventionellen Krieg auf österreichischem Territorium. Vielmehr soll eine starke Rüstung und „ein ewiges Vorbereiten“ die Chance auf jede Art des militärischen Konflikts reduzieren. Denn „ein konventionelles Restrisiko“, wie ein Strategiedokument des Bundesheers besagt, ist immer gegeben. Die Balance mit anderen staatlichen Mitteln zur Erhaltung des Friedens ist hierbei von immenser Bedeutung. Dies ist vor allem Aufgabe der Diplomatie, die eine kluge Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik fördern sollte und die Österreich fest in europäischen Verteidigungsstrukturen verankert.
Tatsächlich ist die Diplomatie momentan wohl das Hauptinstrument der Friedenssicherung für Österreich. Das Bundesheer ist auf kaum einer Ebene annähernd ausreichend ausgestattet, um einen potenziellen konventionellen Aggressor abzuschrecken. Hier sei nur ein einziger Punkt als Beispiel erwähnt, obwohl es auch andere essenzielle konventionelle Fähigkeiten gibt, die im Bundesheer heute kaum bis gar nicht vorhanden sind: die völlige Abwesenheit von mobilen allwetterfähigen Kurz-, Mittel- oder Langstrecken-Boden-Luft-Raketensystemen zur Bekämpfung von Flugzeugen und Marschflugkörpern in großen Höhen, unter deren Schutz jene konventionellen Verteidigungsoperationen erst möglich gemacht werden, wie sie das Bundesheer immer wieder übt. Ohne ausreichend Schutz gegen Luftangriffe - die leichte Fliegerabwehrlenkwaffe „Mistral“ des Bundesheers kann nur Ziele bis 3000 Meter bekämpfen - würde das Bundesheer im Ernstfall schwere Verluste erleiden und den Kampf in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden, einstellen müssen.
Jede Panzeranschaffung, jeder Kauf neuen Geräts für die militärische Landesverteidigung ohne die Beschaffung von moderner Flugabwehr, dient im Grunde genommen nur der Aufrechterhaltung der Illusion, dass Österreich konventionell verteidigt werden kann - wenn auch nur für kurze Zeit. Auch das „Militärstrategische Konzept von 2007“ des Bundesheers beurteilt, dass „mit den bisherigen finanziellen und personellen Ressourcen das Bundesheer nur zu einer ersten, aber nicht nachhaltigen Abwehr konventioneller Angriffe befähigt ist. Die finale Abwehr inklusive der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität von konventionellen Angriffen ist nur durch das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft möglich.“
Die oft propagierte „umfassende Landesverteidigung“ - ganz zu schweigen von militärischer Abschreckung - ist also nicht gegeben. Hatte nun die Dame damals 1997 im Zug von Spielfeld nach Graz recht? Gehört ein Bundesheer, das nicht in der Lage ist, seinen Kernauftrag zu erfüllen, wirklich abgeschafft? Natürlich nicht. Hingegen ist es an der Zeit, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, inklusive finanzieller Mittel, damit unser Heer endlich fähig ist, Österreichs Souveränität zu schützen. Und, solange wir an der Neutralität und Bündnisfreiheit festhalten, im Notfall auch alleine zu verteidigen.