Alles Gute zum 75. Geburtstag. Nicht, dass wir es Ihnen wünschen, aber wann gehen Sie in Pension?
CHRISTIAN KONRAD: Pensionist bin ich seit dem 65 Lebensjahr. Ich habe eine Reihe von gesellschaftlichen Funktionen bei der Albertina, beim Konzerthaus. Und dann haben Ferry Maier und ich den Verein „Menschen. Würde. Österreich“ gegründet. Wir wollen jene ermutigen, die aktiv auf Fremde zugehen – statt dumpf zu schimpfen, dass die Fremden unsere Lebensart gefährden.
Sie hätten auch was anderes werden können? Weltpräsident der Rotarier?
KONRAD: Ich hatte genügend Funktionen in meinen 45 Berufsjahren. Ich lebe in einer Gesellschaft, der ich viel verdanke und der ich etwas zurückgeben möchte. Mir ging es nicht darum, Ankommende zu empfangen und mich in Selfies zu verewigen, sondern zu schauen, dass die Menschen gut versorgt werden.
Wie geht es Ihrem Verein jetzt?
KONRAD: Wir wollen auch die Politik informieren. Am Mittwoch hat der neue Generalstabschef erklärt, die größte Herausforderung ist die Migration. Da kann er nicht Österreich gemeint haben, denn es kommen heuer weniger Leute an als vor zehn Jahren. Ohne Zuwanderung wäre Österreich ein schrumpfendes Land, mit einer schrumpfende Gesellschaft, einer schrumpfende Wirtschaft. Es ist unverständlich, wenn jemand sagt, wir brauchen keinen Zuzug. Wir brauchen den Zuzug, allerdings einen geordneten.
Verstehen Sie ihren Verein als Gegenentwurf zur Regierung?
KONRAD: Wir machen das nicht gegen die Politik, sondern für die Gesellschaft. Leider macht die öffentliche Meinung die Sache oft schwierig.
Warum ist sie so, wie sie ist?
KONRAD: Das sind Ängste, die durch die Bilder des Jahres 2015 ausgelöst wurden. Der Ansturm und die Politiker, die mit Tränen in den Augen davor gestanden sind. Ich sehe es tagtäglich. Menschen, die Kontakt mit Schutzsuchenden haben, haben weniger Ängste als jene, die noch nie einen gesehen haben.
Sind die Ängste unbegründet?
KONRAD: Das würde ich nicht so sagen. Es gibt natürlich Probleme, ich bin ja nicht naiv. Die Politik nimmt die Ängste auf, verstärkte sie, statt zu argumentieren.
Setzt die Regierung falsche Schwerpunkte?
KONRAD: Wenn ich höre, dass die Mittel für die Arbeitsmarktförderung und die Deutschkurse gestrichen werden, dann ist es schwer kontraproduktiv. Junge Leute, die eine Lehre absolvieren, abzuschieben, damit wir irgendeine Statistik aufbessern können, ist Unsinn. Die Vorschläge in der Sozialpolitik sind teils haarsträubend. Wir sind ein gut organisierter Sozialstaat seit Kreisky, auch von der ÖVP mitgetragen, finanziert. Wenn ich höre, wir haben das Geld nicht für die Familienbeihilfe, wenn die Kinder im Ausland leben, muss ich sagen: Das sind alles Leute, die wir dringend für den Sozial- und Pflegebereich brauchen. Ohne die ausländischen Seniorenpfleger wäre die Gesellschaft in einem erbärmlichen Zustand.
Sie halten das für eine Themenverfehlung.
KONRAD: Da wird der Neidkomplex geschürt. Da wird von Familien geredet, die 3000 Euro Notstandshilfe bekommen, und dann stellt sich heraus, es sind zehn Fälle. Ich verstehe den Unmut: Wenn jemand drei Jahre auf den Abschluss seines Verfahrens warten muss und nicht arbeiten darf, kommt mancher auf schlechte Ideen. Wenn die Jugendlichen nicht in die Schule gehen dürfen, sitzen sie im Park herum und tun nichts.
Die Solidarität zwischen den EU-Staaten ist aber auch enden wollend?
KONRAD: Die Visegrad-Staaten profitieren wirtschaftlich von Europa, sind aber in keiner Weise solidarisch. Und Italien lässt man schändlich im Stich. Da fehlt es an gutem Willen, auch bei dem Flüchtlingsschiff, das die Italiener erst in den Hafen gelassen haben, als andere Staaten je 50 Leute übernommen haben.
Österreich hat sich quer gelegt mit dem Hinweis, wir haben 2015 genug Leute aufgenommen?
KONRAD: Ich dachte, unser Bundeskanzler ist derzeit der Ratsvorsitzende. Wenn es um eine Solidaritätsaktion geht, hätte ich als Ratsvorsitzender gesagt: Wir haben zwar viel mehr als alle anderen aufgenommen, wir nehmen zumindest zehn Leute.
Die FPÖ hätte gewirbelt?
KONRAD: Entschuldigung, die ÖVP ist mit der FPÖ beim Rauchverbot mitgegangen. Wegen zehn Menschen? Das kann es nicht sein.
Es geht um die Symbolik?
KONRAD: Das ist lächerlich, wegen zehn Personen.
Sie gehören derselben politischen Familie an wie Kurz, sind ähnlich sozialisiert und ebenso praktizierender Katholik. Wie geht es Ihnen mit dem Kanzler?
KONRAD: Wir haben uns sehr gut vertragen. Ich habe ihn von Beginn an sehr gemocht. Irgendwann einmal ist er in der Flüchtlingsfrage auf ein anderes Gleis abgebogen. Das hat dazu geführt, dass unser Verhältnis schwieriger geworden ist. Ich mag ihn, ich habe Respekt vor seinem unglaublichen politischen Talent. Wie er die Partei übernommen hat, das war ein Meisterstück. Aber in der Frage Humanität sind wir auseinander.
Verrät er die christlichen Wurzeln?
KONRAD: Die Frage, die mir öfter gestellt wird: Ist das noch eine christlich-soziale Partei? Ich sehe das nicht so. Es gibt zwar nach Langem wieder einen Kanzler, der in seinem Büro ein Kreuz hängen hat. Die Politik zwingt ihn offenbar dazu, in der Fragen der Humanität anders zu sein.
Ist es reine Taktik?
KONRAD: Ich weiß es nicht, ob aus Überzeugung oder Taktik. Es wird wohl eine Mischung sein.
Sind Sie ein Schwarzer oder Türkiser?
KONRAD: Ich bin ein Schwarzer und auch ein Grüner!
Ein Grüner, weil Jäger?
KONRAD: Als Raiffeisen-Mann und als Mann mit grünen Ideen. Ich wollte vor 20 Jahren den Hubraum für Dienstlimousinen beschränken, da bin ich nicht ganz durchgekommen.
Kurz setzt den Ländern, den Sozialpartnern, den Kassen das Messer an. Unterstützen Sie ihn?
KONRAD: Es gibt einen Reformstau im Land, das wäre mit Schwarz-Rot sehr schwierig gewesen. Da es keine Alternative gab, blieben nur die Blauen übrig.
Sie waren immer ein großer Anhänger der Große Koalition?
KONRAD: Ich war ein Leben lang ein Anhänger der Großen Koalition, aber ich hatte zuletzt den Eindruck, vor lauter Hinsicht und Rücksicht geht da nichts mehr.
Und die Sozialpartnerschaft?
KONRAD: Eine ordentlich gemachte Sozialpartnerschaft ist unverzichtbar. Ich glaube nicht, dass Kurz sie auflösen will, aber er treibt sie vor sich her. Sie werden schon zurückschlagen, und dann gibt es einen Neuanfang. Zu sagen, es darf gar nichts geändert werden, ist kein Standpunkt. So gesehen wünsche ich ihm alles Gute.
Muss nicht auch der Föderalismus auf neue Beine gestellt werden?
KONRAD: Wo es Doppelgleisigkeit und Unsinnigkeiten gibt, bin ich sehr dafür. Der automatische Reflex, es muss alles anders werden, aber es darf sich nichts ändern, geht nicht. In den letzten Jahren hatte ich den Eindruck, die Landeshauptleute führen das Land. Jetzt gibt es im Bund einen, der aufs Tempo drückt. Was am Föderalismus gut ist, soll erhalten bleiben. Was hypertroph ist, gehört beseitigt. Das können wir uns nicht mehr leisten. Das Geld brauchen wir für was anderes.
Letzte Frage: Sollte Karas bei den EU-Wahlen mit einer eigenen Liste antreten, würden Sie ihn unterstützen?
KONRAD: Karas macht einen sehr ordentliche Job für Österreich. Es würde mich freuen und auch nicht wundern, wenn er noch einmal kandidiert.