Im Ministerrat wurde heute, Mittwoch, die Reform der österreichischen Sozialversicherung auf den Weg gebracht. Sozialministerin Beate Hartinger-Klein und Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck nahmen Stellung zu den kritischen Fragen der Journalistinnen und Journalisten, die sich vor allem auch auf die Zweifel von RH-Präsidentin Margit Kraker und des IHS-Gesundheitsökonomen Thomas Czypionka bezogen.
Schramböck und Hartinger-Klein beharren darauf: Einsparungen von bis zu einer Milliarde bis zum Jahr 2023 seien möglich. Und daraus werde auch die Leistungsharmonisierung auf höchstem Niveau finanziert. Hartinger-Klein nannte sogar explizit ein Beispiel, das Kritiker kaum glauben können, dass nämlich österreichweit physiotherapeutische und psychotherapeutische Leistungen so finanziert werden, wie es einzelnen Länder jetzt schon möglich war.
Kritik an Sozialversicherungsreform: Regierung bleibt bei Einsparungsvolumen
Die Einsparungen seien allerdings nicht nur aus der Verwaltung zu erzielen, sondern auch aus einer gemeinsamen IT, gemeinsamem Einkauf, etc.
Kündigungen soll im Bereich der Verwaltung keine geben, bekräftigten die Ministerinnen, allerdings: Befristete Verträge könne man auslaufen lassen. Betroffen davon sind vor allem die bisher 21 Direktoren und ihre Stellvertreter.
Die Frage, ob die 3,6 Millionen Euro, die man bei den ehrenamtlichen Funktionären maximal einsparen könne, das Kraut fett machen, verneinte Hartinger-Klein. Aber: Entscheidungsprozesse könnten durch weniger Gremien beschleunigt werden. Und Funktionäre müssten künftig gewisse Qualifikationen haben, dürften dafür aber nicht gleichzeitig ein politisches Mandat ausüben.
Hier die Details zur Reform:
1. Was ist genau geplant? Wie spektakulär ist das Projekt?
Bei der Präsentation der Eckpunkte überboten sich Kanzler und Vizekanzler mit Superlativen: Für Sebastian Kurz handelt es sich um „eines der größten Reformprojekte in der Geschichte Österreichs“. Die Sozialversicherung sei der „bestuntersuchte Patient, der bis dato ein völliger Therapieverweigerer“ gewesen sei, so Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) gestern.
2. Stimmt das?
Seit 30 Jahren wird die Reform der Sozialversicherungen diskutiert, zuletzt hatte die London School of Economics in einer noch von SPÖ-Sozialminister Alois Stöger beauftragten Studie Fusionsmodelle entworfen. Türkis-Blau will die Fusion nun einleiten. ÖVP-Klubobmann August Wöginger war mit seiner Einschätzung, es handele sich um „eine der größten Organisationsreformen in Österreich“, präziser.
3. Wie viele Kassen soll es künftig geben?
Die 21 Sozialversicherungen sollen auf vier, fünf Kassen reduziert werden. Die neun Gebietskrankenkassen sollen zur „Österreichischen Gesundheitskasse“ (ÖGK) verschmolzen werden. Die Kassen der Beamten (BVA) und Eisenbahner (VAEB) sollen zur Versicherungsanstalt für den Öffentlichen Dienst, die Kassen der Bauern (SVB) und Selbstständigen (SVA) zur Sozialversicherung der Selbstständigen zusammengeführt werden.
4. Warum weiß man noch nicht, ob es vier oder fünf sein werden?
Es hängt davon ab, ob die Unfallversicherung (AUVA) auch zerschlagen und auf andere Träger aufgeteilt wird oder nicht. Die Regierung hat der AUVA eine Galgenfrist bis 31. August gegeben, um entsprechende Reformen einzuteilen, die auf einer Senkung der von den Arbeitgebern zu zahlenden Unfallversicherungsbeiträge von 1,3 auf 0,8 Prozent beruhen.
5. Welche Einsparungen erhofft sich die Regierung?
Die Regierung erhofft sich in den nächsten fünf Jahren Einsparungen in Höhe von einer Milliarde, wobei 2019 und 2020 der Effekt nahezu null sein dürfte. 2021 soll die Fusion erstmals finanziell wirksam werden - 2021 erhofft man sich 200 Millionen, 2022 300 Millionen, 2023 sogar 500 Millionen. Wie die Koalition kalkuliert? Von den 26.000 Angestellten sind 7000 als Ärzte, Schwestern, Pfleger, also im unmittelbaren Gesundheitsbereich, tätig. 19.000 Personen arbeiteten in der Verwaltung. Hier erwartet man sich die meisten Einsparungen, indem Pensionierungen nicht nachbesetzt werden. In den kommenden drei Jahren gehen zehn Prozent, bis 2029 30 Prozent in Pension.
6. Und was heißt das personell?
In einem Beiblatt rechnet die Koalition vor, von den 2000 Funktionären (bisher war immer nur von 1000 die Rede), die in den diversen Gremien sitzen (und großteils nur eine Aufwandspauschale erhalten), sollen nur noch 400 übrig bleiben. Konkret soll das Dreigestirn aus Vorstand, Generalversammlung, Kontrollversammlung verschlankt und auf ein Gremium reduziert werden. Die damit verbundenen Einsparungen sind marginal. Statt 21 Generaldirektoren und ebenso vielen Stellvertretern, die laut Rechnungshof ein Durchschnittsgehalt in Höhe eines Staatssekretärs erhalten, soll es künftig nur noch fünf bis sechs geben. Kurz gestern plakativ: „Die großen Verlierer sind die Verteidiger des Systems.“
7. Leitet die Regierung damit eine Umfärbung der Kassen ein?
Die Koalition stellt das in Abrede. Zwar stimme es, dass in den Kontrollgremien die Arbeitnehmer klar in der Mehrheit sind (4:1), umgekehrt sind die Arbeitgeber in den Vorständen mit 4:1 in der Mehrheit. Künftig sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer im neuen Gremium paritätisch besetzt, so die Regierung.
8. Was heißt das für die bisherigen Gebietskrankenkassen?
Diese werden entmachtet. Zum einen soll die Budget- und Personalhoheit bei der ÖGK angesiedelt werden, zum anderen werden die künftigen Chefs der Landessstellen von der Zentrale ernannt. Was entscheidender ist: Alle Verträge (Ärztekammer, Apothekerkammer, Medikamente) sollen von der Zentrale verhandelt werden. Bis Ende 2018 können die Kassen ihre Rücklagen aufbrauchen.
9. Wien, der Wasserkopf Österreichs, wird dadurch ausgebaut?
Nein, denn Kanzler und Vizekanzler wollen den Sitz der „Österreichischen Gesundheitskasse“ nicht in Wien, sondern in einer Landeshauptstadt ansiedeln. Favorit ist Linz, in dem ÖVP und FPÖ auf Landesebene koalieren.
10. Was bedeutet die Reform für die Patienten?
Die Koalition will das eingesparte Geld in den Ausbau der Stellen für Kassen- und für Landärzte investieren. Laut Regierung soll es künftig innerhalb einer Kasse einheitliche Leistungen bundesweit geben (was derzeit nicht der Fall ist). Eine Anpassung zwischen ÖGK und den beiden anderen Kassen ist nicht geplant.
11. Ist es jetzt der große Wurf?
Nach einhelliger Meinung aller Gesundheitsexperten ist es nur ein erster Schritt. Die großen Finanzströme zwischen Bund, Ländern, Sozialversicherungen, Ärzten, Spitälern, Ambulanzen sind davon kaum berührt. Hier wäre das große Geld zu holen.