Bekanntlich ist meistens nicht die Technik das Problem, sondern ihr Gebrauch durch den Menschen. Dieser Befund gilt besonders für unseren neuen Universalkörperteil: „Smart“ ist beim Smartphone nämlich nur das Gerät. Das Bedienelement „Mensch“ dagegen stellt sich häufig als geistig-moralische Sollbruchstelle des Gesamtsystems heraus.
Jüngster Beleg dafür sind die Einsatzberichte von Unfallhelfern. Sie klagen in letzter Zeit gehäuft über ein abstoßendes Phänomen: Sensationslüsterne Gaffer mit gezückten Handykameras behindern Rettungseinsätze und stellen ungeniert Opfer bloß. Speziell im Straßenverkehr scheint es keine Schamgrenze zu geben. Wenn es kracht, wird erst einmal draufgehalten - koste es, was es wolle. Das führt mittlerweile schon fast täglich zu beklemmenden Szenen. Anlässe gab es zuletzt in Wien, in Linz, in Graz.
"Schneller auf Youtube als im Krankenhaus"
Wer den Schaden hat, bekommt also erst einmal einen „Spot“. Viele Schwerverletzte würden „schneller auf Youtube als im Krankenhaus“ landen, klagte kürzlich ein Rotkreuz-Mann. Liegen Verletzte oder gar Tote auf der Straße, dann brauchen Ersthelfer und Einsatzkräfte einen Gutteil ihrer Energie, um sich den Weg durch die glotzenden Massen zu bahnen. Fassungslos ringen sie um rudimentäre Pietät: Blickdichte Tücher werden gespannt, Zuschauer des Ortes verwiesen.
Diese Mühe ist meist vergeblich. Sensationsgier verdrängt jeden Skrupel, und das keineswegs nur hierzulande. In Deutschland fordern bereits mehrere Bundesländer ein Anti-Gaffer-Gesetz: Wer Rettungskräfte behindert oder Unfallopfer filmt, dem könnte bald bis zu ein Jahr Haft drohen. Auch Geldstrafen und die sofortige Abnahme des Handys werden diskutiert.
Fest steht: Unter den wenig schmeichelhaften Wahrheiten, die das Smartphone über die Natur des Menschen offenbart, zählt die schaurige Schau-Lust zu den übelsten Facetten. Nackte Neugier und primitivste Schadenfreude schimmern frivol durch den fragilen Schmelz der Zivilisation. Der moralische Bankrott wird im Zoom der Kameralinsen bis zur Kenntlichkeit ausgeleuchtet, das Versagen wird durch Megapixel technisch potenziert.
Sind wir seelenlose Voyeure?
Man muss also fragen: Sind wir seelenlose Voyeure? Ist der Mensch noch ein mitfühlendes Wesen? Oder bekommen wir Würde und Empathie nur mehr per Strafgesetz? Die Antwort fällt zwiespältig aus. Zunächst sollten wir uns eingestehen, dass niemand immun ist gegen voyeuristische Reize. Der Sehsinn ist stark wie sonst keiner. Nicht das Großhirn, sondern das Stammhirn steuert unsere Aufmerksamkeit. Dort regiert nicht ethische Noblesse, sondern ein simpler Imperativ des Überlebens: Wenn in deinem Blickfeld etwas Überraschendes passiert, musst du hinsehen, um die Gefahr zu bewerten. So sichert das „Tier Mensch“ (den Begriff prägte einst der britische Zoologe Desmond Morris) sein Überleben.
Im Normalfall stellen wir freilich an uns selbst den zivilisatorischen Anspruch der Triebkontrolle. Also sollte der Mensch in der Lage sein, nach einem flüchtigen Blick auf ein Unfallgeschehen entweder aktiv Hilfe zu leisten. Oder, wenn das bereits andere tun, diskret wegzublicken und seiner Wege zu gehen.
Gaffer waren allerdings auch schon vor dem Handyzeitalter ein Problem. Die Begriffe „Schaulust“ und „Sensationsgier“ verweisen darauf, dass der Mensch aus dem Beobachten des Unerhörten - und speziell des ihn nicht persönlich treffenden Unglücks - Lustgewinn zieht. Denn wer vom Hinsehen diskret absieht, der „verzichtet“ ja auf das, was unter bohrenden Blicken zusehends zur Sehens-Unwürdigkeit verkommt.
Angstlust
Wer hingegen zuschaut, verstohlen oder offen, verspürt die Angstlust des Noch-einmal-davongekommen-Seins. Im wohligen „Schauer“ steckt das „Schauen“. Der trügerische Schutz der Gruppe im urbanen Raum tut meist ein Übriges, um zivilisatorische Hemmschwellen zu beseitigen. Schon vor 50 Jahren beschrieben Psychologen den „Bystander effect“: Die Chance auf „prosoziales Verhalten“, also auf Hilfeleistung in Not, sinke mit der Zahl der anwesenden Zuseher. Erklärt wird dies mit Überforderung, Unsicherheit und „Diffusion der Verantwortung“: In der großen Gruppe fühlt sich für Anstand niemand zuständig. Man kann den niederen Instinkten ihren Lauf lassen. Wenn sich in so einer Situation eine interessierte Ignoranz einnistet, dann gilt sensationsgeile Untätigkeit als angemessenes Verhalten. Am Ende sieht man den gepeinigten Juden beim Straßenwaschen zu.
Dazu kommt heute die Allgegenwart von Kameras, von privaten ebenso wie von offiziellen. Vom Überwachungsstaat bis zum selbst ernannten Blockwart setzen sich Datenjäger und -sammler über Schranken hinweg, die einst jeder respektierte. Drohnen blicken in Privathäuser, Satelliten starren durch Wolken, Wildtierkameras setzen das Animalische ins Bild. Sogar auf Toiletten wird im Dienste der Sicherheit gefilmt.
Auf Facebook vereinigen sich (un-?)kultivierter Voyeurismus und fröhliche Selbstdarstellung zum manchmal peinlichen, oft banalen Panoptikum. Das Leben ist ein Bilderbuch: Ultraschall- und Röntgenbilder, Babyfotos, Heldenposen sind dort zu bewundern. Jeder ist Hauptdarsteller mit Helmkamera, jeder führt in seinem Leben Regie. Das Recht am eigenen Bild wird als Berechtigung gedeutet, sich ständig ins Bild zu setzen. Publico, ergo sum - ich veröffentliche, also bin ich.
Die Rolle der Medien
Auch wir Medien müssen uns einigen unangenehmen Fragen stellen. Haben wir nicht im Überschwang der Handyfizierung das Publikum dazu aufgerufen, uns Privatfotos zu senden? In welcher Weise spielen wir mit Sensation und Aufmerksamkeit? Gewiss: Journalismus stellt Öffentlichkeit her und erfüllt insoweit in professionellem Rahmen unverzichtbare Aufgaben. Gegen die böse Unterstellung, wir würden nur plumpe Sensationsgier bedienen, wehren wir uns zu Recht.
Aber die Grenzen des Darstellbaren sind in Bewegung geraten, und keiner kann sagen, er hätte sie nie überschritten. Gerufene Geister verschwinden nicht. Intimität ist heute so selten wie Stille oder Finsternis. Das Fernsehen ist voll mit voyeuristischen Formaten. Wieso sollte also ein Passant seine Kamera ausgerechnet dann abdrehen, wenn das Schicksal einmal zufällig in seiner Blickdistanz zuschlägt?
Soziale Entgrenzung
Womöglich müssen wir heute feststellen, dass die soziale Entgrenzung untragbare Kollateralschäden schlägt. Der Drang zur Selbstvergewisserung darf auch im allgemeinen Nihilismus nicht dazu führen, dass alle Dämme brechen. Was wir jedenfalls weiterhin brauchen, ist die Kultur der Mitmenschlichkeit: Zusammenhalt, Mitgefühl, gegenseitige Hilfe.
Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Mancherorts sind frustrierte Unfallhelfer dazu übergegangen, die Gaffer ihrerseits in Internet-Foren anzuprangern. Diese Hilferufe stoßen auf überwältigend positives Echo beim Publikum. Es kann natürlich sein, dass auch das wieder nur eine neue flüchtige Welle im Empörungsmedium Internet ist. Aber wenn „soziale Medien“ dazu führen, dass wir unser eigenes Handeln sorgfältiger abwägen, dann haben sie ihren Namen womöglich doch noch verdient.