Ein hoher Beamter im Wiener Bundeskanzleramt hat laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins "profil" jahrelang für den ungarischen Geheimdienst die damaligen Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) und Bruno Kreisky (SPÖ) bespitzelt. Erst heuer sei der mittlerweile verstorbene Mann von dem ungarischen Historiker Lajos Gecsenyi enttarnt worden.
Gecsenyi fand demnach im historischen Archiv des Nachrichtendienstes in Budapest 18 Aktenordner mit Berichten und Dokumenten des Beamten, der in der Sektion IV des Bundeskanzleramtes gesessen sei: "Das SPÖ-Mitglied hatte so direkten Zugang zu Akten über die Verstaatlichte Industrie, über die heimische Energiepolitik und Informationen über Außenhandel und die damalige EWG."
Deckname 'Livingstone'
Der "bieder wirkende Österreicher" habe von 1965 bis 1982 für den ungarischen Geheimdienst gearbeitet. "Unter dem Decknamen 'Livingstone' verfasste er Berichte über österreichische Innen- und Wirtschaftspolitik. Dazu verschickte er interne Telefonverzeichnisse und unzählige vertrauliche Akten nach Budapest", heißt es in dem Bericht.
Im Warschauer Pakt habe der ungarische Geheimdienst im Auftrag Moskaus die Aufgabe übernommen, Informationen über sozialdemokratische Parteien im deutschsprachigen Raum zu sammeln. "Auch Livingstone lieferte so Insider-Berichte aus der SPÖ und der Sozialistischen Internationale. Von einer Tagung der Sozialistischen Internationale in Genf 1975 meldete er einen heftigen Konflikt zwischen dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Bruno Kreisky über Rezepte gegen die damalige Wirtschaftskrise."
Für seine Spitzeldienste habe "Livingstone", der von seinen Leitoffizieren häufig gelobt worden sei, vom ungarischen Geheimdienst in den 1970er-Jahren durchschnittlich 35.000 Schilling im Jahr bekommen, was nach heutiger Kaufkraft rund 8.000 Euro entspreche. Der Beamte sei "nicht mit dem DDR-Spion Günter Guillaume vergleichbar" gewesen, "der sich 1970 ins Kabinett des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt einschleichen konnte. Aber er schickte alles, was ihm unter die Finger kam, an seine Auftraggeber." Interne Berichte über SPÖ-Personalien seien in Budapest besonders gefragt gewesen.
"Östliche Nachrichtendienste haben in Wien ein dichtes Spinnennetz von Informanten und Zuträgern ausgebreitet", erklärte der Grazer Historiker Stefan Karner gegenüber "profil": "Dazu wurden Mitarbeiter der zweiten und dritten Garnitur in Ministerien angeworben, oft und absichtlich unscheinbar wirkende Beamte."