Die ÖVP rückt Sie mit einer Broschüre in die Nähe des Kommunismus. Wird jetzt vom Koalitionspartner der Wahlkampf eingeläutet?
CHRISTIAN KERN: Der Inhalt dieser Broschüre richtet sich von selbst und ist natürlich unseriös. Aber wir können gerne darüber diskutieren, was dort geschrieben steht: Wenn die ÖVP meint, wir hätten ein Problem damit, Leistung zu fördern, dann frag ich: Wie definieren wir denn in unserem Land Leistung und Leistungsträger? Für uns sind nicht jene fünf Prozent in der Bevölkerung, die von Dividenden und Zinsen leben, die Leistungsträger, sondern jene 95 Prozent, die sich tagtäglich anstrengen müssen. Für diese Mittelschicht wollen wir Politik machen. Und ich frag auch die ÖVP, ob es leistungsgerecht ist, für einen 40-Stunden-Job nicht einmal 1500 Euro zu bekommen. Und was passiert mit den älteren Leistungsträgern?
Dass Sie als Marxist gezeichnet werden, stört Sie nicht?
Das ist doch alles nicht ernst zu nehmen. Bemerkenswert finde ich den Unterschied zwischen unsrem Plan A und der ÖVP-Broschüre. Wir haben zahlreiche Vorschläge erarbeitet, um Österreich nach vorn zu bringen. Die ÖVP hingegen strengt sich an, mich herabzuwürdigen.
Also doch Wahlkampf?
Das sehe ich nicht so. Dass SPÖ und ÖVP unterschiedliche Menschenbilder haben, ist bekannt. Trotzdem müssen wir in einer Koalition zusammenarbeiten. Aber wenn jemand in der ÖVP aus falschem Ehrgeiz eine Neuwahl vom Zaun brechen will, dann sollte er auch den Mut haben, das offen zu sagen, und sich nicht als Heckenschütze betätigen.
Sehen Sie die ÖVP-Broschüre als Plan P für Provokation?
Die Regierungsarbeit ist nicht immer ein Quell der Freude. Aber ich will bis zum Herbst 2018 Ergebnisse liefern. Und dazu stehe ich. Ich erkenne schon die Anzeichen in der ÖVP, in eine Neuwahl abzubiegen. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner zähle ich aber nicht zu dieser Gruppe.
Ist Mitterlehner noch das Gravitationszentrum der Partei?
Lassen Sie mich die Frage so beantworten: Die ÖVP war immer eine sehr heterogene Partei. Die Meinungsbildung in der SPÖ ist deutlich einfacher.
Auch nach diesem Wiener Parteitag?
Da bin ich mir allemal sicher.
Gibt es für Sie einen Punkt, wo Sie sagen: „Es reicht!“
Wir haben uns in einem erneuerten Regierungsprogramm auf ein Programm geeinigt. Diesem fühle ich mich verpflichtet.
Aber mit dem Pizzaaustragen haben auch Sie Ihren Wahlkampfbeitrag geliefert.
Wir führen in Österreich oftmals politische Insider-Diskussionen. Dieses Video wurde bislang von 1,1 Millionen Menschen auf Youtube und Facebook angeklickt. Ich habe einen Abend lang investiert, um damit die Aufmerksamkeit auf die Zukunftsfragen zu lenken. Und das ist uns gelungen. Die Flüchtlingsfrage ist wichtig. Sie wird und muss gelöst werden. Gleichzeitig aber deckt diese Debatte alle anderen relevanten Fragen für die Menschen zu.
In der Flüchtlingsfrage wirft Ihnen der linke Flügel in der Partei Populismus vor. Müssen Sie die Partei nach rechts rücken, um Wahlen zu gewinnen?
Ich finde mich in dieser Links-rechts-Einordnung nicht zurecht. Österreich hat angesichts der Flüchtlingsfrage wirklich sehr viel geleistet. Doch wir müssen auch danach trachten, die Menschen zu integrieren. Wir müssen aus humanitärer Sicht an die Grenzen unserer Möglichkeiten gehen, aber nicht darüber hinaus. Machen wir doch die Augen auf: Wenn wir die sechs Millionen Menschen, die sich in Lagern in der Türkei, im Libanon und in Jordanien befinden, nicht betreuen und anständig versorgen, dann ist Europa mit einem vielleicht nicht mehr bewältigbaren Thema konfrontiert. Ich bin sehr für eine solidarische Gesellschaft, aber ich will keine zerfallende Gesellschaft. Ich nenne dies nicht populistisch, sondern Realpolitik.
Ist Ihr realpolitischer Kurs eine Zerreißprobe für die SPÖ?
Überhaupt nicht. Auch nicht in den Debatten mit dem äußerst links stehenden Teil unsrer Partei. Ich erkenne auch in der Wiener SPÖ keinen ideologischen Konflikt. Hier geht es vielmehr um persönliche Animositäten. Dafür braucht es eine Lösung.
Mit einer Wiener Partei in diesem Zustand können Sie keine Wahl gewinnen.
Die Diskussionen in Wien schwelen jetzt schon seit Monaten. Im selben Zeitraum kletterten wir in Umfragen wieder auf 30 Prozent. Natürlich wäre mir lieber, wir hätten diesen Konflikt nicht. Worauf ich nur hinweisen will: Die Menschen können sehr wohl zwischen den Ebenen unterscheiden.
In den meisten Bundesländern befindet sich die Sozialdemokratie in keiner guten Verfassung. Bricht der Partei das Hinterland weg?
Ich sehe uns auf einem guten Weg, wenn ich an die jüngsten Personalentscheidungen denke. Ich bin überzeugt, dass wir mit Elisabeth Blanik in Tirol zulegen werden. Wir werden in Vorarlberg mit der Ärztin Gabriele Sprickler-Falschlunger die Partei neu aufstellen. Wir haben in Niederösterreich mit Franz Schnabl eine hervorragende Lösung erzielt. Und ich denke, dass wir in Oberösterreich mit Birgit Gerstorfer – zugegeben unter schwierigen Rahmenbedingungen – wieder unsren Blick vorwärtsrichten.
Wer soll in Wien die Partei nach Michael Häupl führen?
Ich werde mich sicher nicht über mögliche Kandidaten äußern. Wir werden in Wien jetzt in aller Ruhe entscheiden. Der Zeitplan liegt klar am Tisch.
Michael Häupl argumentierte immerzu klar und eindeutig gegen eine Zusammenarbeit mit der FPÖ. Ist dies nicht die Ursache für den Konflikt in der Wiener SPÖ?
Ich habe bislang niemanden getroffen, der mit erklärt hätte, wir sollen mit der FPÖ koalieren. Ich kenne auch keine diesbezügliche Aussage der handelnden Personen der Wiener Partei.
Das heißt: Peter Kaiser kann seine Arbeit am Kriterienkatalog beenden.
Mit ist es wichtig, unsre Werte zu bewahren, nicht unsere Dogmen. Unsre Werte werden die Richtschnur unseres Handelns bleiben.
Obwohl Österreich in der zweiten Jahreshälfte 2018 den Ratsvorsitz übernimmt, wollen Sie erst im Herbst 2018 Wahlen?
Nach der Reform von Lissabon hat der nationale Ratsvorsitz nicht mehr diese Bedeutung wie zuletzt unter Wolfgang Schüssel. Ich erinnere nur an das jetzige Vorsitzland Malta. Dort hat Ministerpräsident Joseph Muscat jetzt während des Vorsitzes vorgezogene Parlamentswahlen angekündigt. Und der weiß am besten, ob das vereinbar ist oder nicht.
Gibt es für Sie eine Denkvariante, gemeinsam mit dem Vizekanzler vor die Kameras zu gehen, um das vorzeitige Ende der Legislaturperiode zu verkünden?
Ich schließe diesen Weg für mich aus. Aber wenn sich die ÖVP davonmacht, kann ich sie nicht anbinden. Wir sollten uns bemühen, dass wir unser Arbeitsprogramm gemeinsam umsetzen.
Sie sind jetzt ein Jahr Bundeskanzler: Welche Illusionen haben Sie verloren?
Mir macht die Arbeit große Freude. Ich hätte mir aber gewünscht, dass wir mehr Energie in Zukunftsfragen investieren. Wir sollten uns endlich von ideologischen Scheingefechten verabschieden und überlegen, welche Antworten wir auf das Verschwinden von Arbeitsplätzen durch die Globalisierung und Automatisierung geben und wie wir gestärkt aus dieser Zeitenwende hervorgehen.
Was hätten Sie gerne im ersten Jahr erreicht?
Wir haben eine Trendumkehr am Arbeitsmarkt erreicht. Da zeigen unsere Maßnahmen Wirkung. Beim Bildungsthema, wo es besonders viel Widerstand gibt, hätte ich mir mehr gewünscht. Und heftigen Gegenwind gibt es immer dann, wenn es um die Verschlankung des Staates geht.
Außenminister Sebastian Kurz ist zugleich auch Integrationsminister. Ein Konstruktionsfehler?
Wenn es noch einmal zu einem Koalitionsvertrag mit der ÖVP kommen sollte, dann würde ich sicher Änderungen in der Ressortverteilung vornehmen. Die Zuordnung von Kompetenzen ist nicht immer logisch und schafft Reibungsverluste. In der Ressortverteilung sind Gründe zu finden, warum es in der Koalition nicht immer optimal funktioniert.
Eine Frage an den SPÖ-Vorsitzenden: Vor einem Jahr haben Sie in der SPÖ eine Aufbruchsstimmung ausgelöst. Auf der Funktionärsebene rührte sich aber wenig: Die SPÖ erinnert immer noch an einen Kanzlerwahlverein.
Ich möchte keinen Kanzlerwahlverein hinterlassen, sondern die SPÖ wieder zu einer gesellschaftspolitisch relevanten Bewegung machen. Im Zuge der Erarbeitung des neuen Parteiprogramms wollen und suchen wir den Dialog mit vielen gesellschaftlichen Kräften. Die SPÖ benötigt eine inhaltliche und personelle Öffnung. Ich habe gesagt, dass ich für mich eine Zehnjahresperiode in der Politik sehe, die werde ich dafür nützen.
Wer wird in der kommenden Wahlauseinandersetzung Ihr schärfster Konkurrent sein?
Ich denke, der Wahlkampf wird eine heftige inhaltliche Auseinandersetzung über die Zukunft Österreichs werden. Letzten Endes wird es also zu einer Auseinandersetzung mit der FPÖ kommen. Wir werden der Politik der FPÖ ein proeuropäisches, offenes und progressives Weltbild entgegensetzen.
Das Interview führten die Chefredakteure der Bundesländerzeitungen. Für die Kleine Zeitung nahm Hubert Patterer teil.