Die umstrittene Broschüre aus der ÖVP-Parteizentrale, die Kanzler Christian Kern (SPÖ) in die Nähe des Kommunismus rückt, ist für das rote Regierungsteam kein Grund für vorgezogene Neuwahlen. "In der ÖVP gibt's immer viele Grüppchen, und da hat eines übers Ziel geschlagen", gab sich Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) am Mittwoch vor dem Ministerrat gelassen. Inhaltlich bringt die Koalition derzeit nicht viel weiter: Weder auf die Dämpfung der kalten Progression noch auf die Beschäftigungs-"Aktion 20.000" konnte man sich bis zur Regierungssitzung einigen. Einzig relevanter Beschluss dürfte heute die Strafrechtsreform sein.
Aktion 20.000 wartet auf Umsetzung
Stöger pochte vor dem Ministerrat mit Verweis auf die Arbeitslosigkeit auf die Umsetzung der "Aktion 20.000". "Ich wäre froh, wenn die ÖVP die Energie dorthin legen würde", statt Broschüren zu schreiben, richtete der Minister dem Koalitionspartner aus. Wirklich auf den Folder eingehen wollte Stöger nicht: "Das richtet sich von selbst." Die SPÖ wolle bis Herbst 2018 arbeiten, betonte Stöger. Es gebe auch in der ÖVP "viele Vernünftige, mit denen man arbeiten kann". Die schwarze Parteizentrale meint er damit offenbar nicht: "Da haben manche zu viel Zeit."
"Die Spindoktoren in der Lichtenfelsgasse haben sich selbst überdribbelt", urteilte auch Infrastrukturminister Jörg Leichtfried (SPÖ). Es habe schon bessere Momente in der Koalition gegeben, räumte er ein. Insgesamt sei die Situation ein bisschen janusköpfig - er selbst pflege mit seinem ÖVP-Gegenüber Andrä Rupprechter eine gute Zusammenarbeit, aber einige in der ÖVP glaubten offensichtlich, die Oppositionsrolle einnehmen zu müssen. Auch Leichtfried sprach sich aber einmal mehr gegen vorgezogene Neuwahlen aus. Bildungsministerin Sonja Hammerschmid (SPÖ) gab sich zum Koalitionsklima - zumindest in ihrem Bereich - entspannt: "Ich kann nicht klagen."
Wortkarge ÖVP-Minister
Die ÖVP-Minister gaben sich vor der Regierungssitzung eher wortkarg: Der von der Volkspartei nominierte Justizminister Wolfgang Brandstetter verweigerte mit dem Hinweis, parteifrei zu sein, einen Kommentar zur Broschüre. Rupprechter war am eiligen Weg zur Sitzung zum Koalitionsklima nur ein einziges Wort zu entlocken, nämlich "wunderbar".
Auch Familienministerin Sophie Karmasin (ÖVP), die dem Kanzler auch schon Inszenierung vorgeworfen hatte, wollte sich nun zum neuen Anti-Rot-Grün-Folder ihrer Partei nicht wirklich äußern: Sie wolle die Broschüre "nicht bewerten", "ich glaube, das wird ein bisschen zu sehr hochgespielt". Sie konzentriere sich auf die "Sacharbeit", betonte Karmasin. Für Verwunderung sorgte ihre Antwort auf die Frage, ob die Broschüre die Retourkutsche für die Pizza-Liefer-Aktion des Kanzlers sei: "Ich glaube, das steht alles in keinem Zusammenhang."
Gesprächiger war ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka, wiewohl auch er Wahlkampf-Aktivitäten seiner Partei in Abrede stellte: "Wahlkampf sieht anders aus." Es handle sich bei der Broschüre um eine "interne Funktionärsinformation, die gibt es immer wieder". Sogleich nutzte Lopatka die Kameras, um zu kritisieren, was Rot-Grün in der Bundeshauptstadt bei Schulden und Mindestsicherung "anrichtet". Es herrsche "absoluter Stillstand" in Wien.
Zum Einwand, dass sich die Broschüre auf eine Warnung vor Rot-Grün im Bund bezieht - immerhin ist der SPÖ-Bundesparteivorsitzende am Cover abgebildet - entgegnete Lopatka, der Kanzler trage "auch für Wien eine Verantwortung". Der Bundeskanzler könne ja nicht so tun, als hätte er mit Wien nichts zu tun, findet Lopatka. Er halte es für richtig, aufzuzeigen, "dass Rot-Grün nicht in eine gute Zukunft führt", verteidigte der Klubobmann das Werk aus der Parteizentrale. "Mein Punkt ist der: Rot-Grün ist nicht gut - weder in Wien, noch im Bund."