Die österreichischen SPÖ-Abgeordneten haben im EU-Parlament gegen das Handelsabkommen Ceta gestimmt. Sind sie Ihnen in den Rücken gefallen?
Christian Kern: Nein. Es gibt in der Tat genug Kritikpunkte. Die EU-Abgeordneten können mit ihrem Nein den Protest zum Ausdruck bringen. Ich als Regierungschef habe die Gesamtverantwortung. Ich wollte nicht zulassen, dass die Interessen der Österreicher in Europa mit einem Veto zu Ceta geschädigt werden. Das bliebe nicht ohne Konsequenzen. Jeder, derdas glaubt, irrt. Es geht um Fördermittel, um Jobs, etc.
Sie wollten es sich mit Rest-Europa nicht verscherzen?
Kern: Wir kritisieren, dass die Entsendungsrichtlinie nicht kommt, weil die Visegrad-Staaten dagegen sind. Oder dass die Verteilung der Flüchtlinge nicht passiert. Wir würden jedes Recht verlieren, Kritik zu üben, wenn wir nicht auch bereit wären, Unpopuläres mitzutragen. Ich weiß, viele bei uns sind skeptisch. Aber ich trage keine Verantwortung gegenüber Stimmungen, sondern gegenüber den Interessen Österreichs.
Ist mit der Abstimmung schon das letzte Wort gesprochen?
Kern: Nein, die Diskussion über Ceta wird uns noch jahrelang beschäftigen. Die gesamte Wirkung des Vertrags entsteht ja erst durch die Kombination des Vertragswerks mit der Gerichtsbarkeit. Ich habe gesagt, wir blockieren nicht, aber wir schauen uns noch einmal ganz genau an, wie die Investitionsgerichtshöfe ausschauen sollen, welche Klagen zulässig sind.
Wo hat man noch Einfluss?
Kern: In den nationalen Parlamenten. Wir könnten es ablehnen.
Dazu wären Sie bereit?
Kern: Wir werden so lange verhandeln, bis alle offenen Fragen geklärt sind. Vielleicht werden wir Ceta in 18 Monaten ratifizieren, vielleicht in fünf Jahren oder später. Das ist bei Handelsabkommen nicht ungewöhnlich.
Warum haben Sie sich diese Zeit nicht für die Entscheidung im EU-Rat genommen?
Kern: Da hätte Österreich mit einem Veto den Vorschlag der 27 anderen Staaten blockiert. Da reden wir nicht mehr nur über ein Handelsabkommen, sondern darüber, welche Rolle Österreich in der EU spielen will. Am Montag war ich mit Bundespräsident Van der Bellen in Brüssel, und wir haben uns beide zu einem starken, geeinten Europa bekannt. In der Situation, wo Donald Trump Europa attackiert, weil er ein Interesse daran hat, dass es ein schwaches Europa gibt, ist es umso wichtiger, dass Europa ein Signal des Zusammenstehens setzt. Wenn wir Österreicher uns jetzt hinstellen und betonen: Wir sind für Europa, und gleichzeitig sagen, bei diesem oder jenem Paragrafen können wir nicht mit und deshalb zerstören wir das Abkommen, dann haben wir die Position Europas in der Welt demoliert. Seit der Inthronisierung von Trump kamen Dutzende Länder auf Europa zu und wollen Handelsvereinbarungen schließen. Ich finde es gerade jetzt wichtig, dass man versucht, Brücken in die Welt zu bauen und nicht Gräben auszuheben.
Wie sehr muss sich Österreich vor den Folgen der Trump-Ära fürchten?
Kern: Das ist unberechenbar. Die Lehre ist: Wer einen Rechtspopulisten wählt, bekommt rechtspopulistische Politik. Und die hilft uns mit Sicherheit nicht.
Die ÖVP will die Beihilfe für Familien, die im EU-Ausland leben, mit einem nationalen Alleingang an die niedrigeren Niveaus dieser Länder angleichen. Mit Ihrer Zustimmung?
Kern: Ich teile das Anliegen. Es ist richtig, dass man versucht, die Kinderbeihilfe an die Kaufkraft anzupassen. Wir sollten aber nicht Schlagzeilen produzieren, sondern Lösungen. Eine Lösung ist noch keine, nur weil sie in österreichischen Zeitungen steht.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat Sie in Brüssel als „Haberer“ begrüßt. Das kommt aus dem Wienerischen und ist eine Entlehnung aus der Gaunersprache.
Kern: Juncker formuliert halt mitunter recht deutlich. Ich tue das auch, insofern bin ich nicht dazu berufen, mich darüber zu beschweren. Ich halte ihn für einen großen Europäer, vor allem für einen, mit dem man trefflich streiten kann. Er ist ein zuverlässiger Partner, wenn ich versuche, etwas auf die Agenda zu bringen, etwa das Stahldumping der Chinesen.
Aber er stand auch für das Schaffen jener Steuerschlupflöcher, gegen die Sie auftreten.
Kern: Stimmt, wir sind uns nicht immer einig. Aber ich halte ihn da für einsichtig.